Rede anlässlich „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" beim Festakt in Amberg

Landtagspräsidentin Ilse Aigner hat am 17.10.2021 als Schirmherrin am Festakt  „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" in Amberg teilgenommen. Es waren außerdem Vertreter des religiösen Lebens, der Politik, aus den jüdischen Gemeinden in Amberg, Sulzbach, der Oberpfalz, Bayern und Deutschland, Vertreter von Bildungseinrichtungen und Kooperationspartner beim Festakt anwesend.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Sehr geehrte Rabbiner,

sehr geehrter Herr Rabbiner Pushkin,

sehr geehrter Herr Rabbiner Dray,

Michael Cerny,

Ignaz Berger,

Alexander Iolowitsch,

Vorstandsmitglieder und Mitglieder der jüdischen Gemeinden,

Axel Bartelt,

Michael Göth,

Dr. Ludwig Spaenle,

Barbara Lanzinger,

Dieter Dörner,

Andreas Bönte,

Vertreter der Kirchen,

Damen und Herren,

 

Deutschland, Bayern, Amberg – wir feiern hier und heute 1.700 Jahre jüdisches Leben; dazu auch von meiner Seite im Namen des Bayerischen Landtags und ganz persönlich ein herzliches Willkommen!

Mit Freude und Stolz habe ich die Schirmherrschaft für diesen Festakt und die Heimbringung der historischen Sulzbacher Tora-Rolle übernommen. 

Wir wollen mit einer Vielzahl an Veranstaltungen, Initiativen und Aktionen in diesem Jahr Bewusstsein schaffen in unserem Land für 1.700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte.

Diese hat auch viele dunkle Kapitel.

  • Ist es ein „Jubiläumsjahr“?
  • Ist es ein „Festjahr“?
  • oder ein „Veranstaltungsjahr“?

Ich sage: Es ist ein Verantwortungsjahr! 

Es gilt – und zwar nicht nur in 2021 – Haltung zu zeigen, Entschiedenheit.

Sich zu bekennen – zum vitalen, vielseitigen jüdischen Leben in unserer Heimat.

 

Im Juli hat die Münchner Kultusgemeinde ein Bürgerfest auf dem St.-Jakobs-Platz in der Innenstadt ausgerichtet.

Das Motto lautete: „Jüdisch im Herzen“.

Das hat mir gefallen – es hat mich bewegt.

Weil mir schlagartig klar wurde: Es ist so wahr!

 

Aber nicht nur in der Landeshauptstadt,
wo die jüdische Gemeinde nach Jahren im
verborgenen Hinterhof wieder im Herz der Stadt angekommen ist.

Ich habe mir auch die Karte von Amberg angeschaut.

Und auch hier, in der Salzgasse, ist die jüdische Gemeinde daheim – im Zentrum der Stadt.

Amberg ist jüdisch im Herzen!

 

Fakt ist:

Wenn etwas zu Deutschland gehört
– dann ist es das Judentum.

  • Es war da, bevor es den Staat gab,
    den wir heute Deutschland nennen.
  • Es war da, bevor es hier Deutsche gab.
  • Wohl auch, bevor es hier Christen gab.

1.700 Jahre – mindestens! – leben jüdische Menschen auf dem Boden der heutigen Bundesrepublik.

Deutschland ist jüdisch im Herzen!

 

In Bayern leben jüdische Menschen seit gut 1.000 Jahren
– länger als Altbayern, Franken, Schwaben und Sudetendeutsche.

Sie sind also eigentlich nicht der „fünfte Stamm“ – ein Begriff, den der frühere Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber eingeführt hat, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Juden fester Bestandteil unserer bayerischen Heimat sind.

Aber genau genommen sind die Juden nach den Bajuvaren sogar der zweite Stamm.

Und ich spreche am liebsten von
den jüdischen Altbayern,
den jüdischen Franken,
den jüdischen Schwaben
und natürlich auch: den jüdischen Oberpfälzern.

Denn Bayern ist jüdisch im Herzen!

 

Dennoch, meine Damen und Herren,

1.700 Jahre – wenn wir ehrlich sind:

Viel Grund zu feiern, bietet der Rückblick nicht.

Die jüdisch-deutsche Geschichte ist über die Jahrhunderte eine Geschichte von Anfängen und Annäherung,
Anfeindung und Ausgrenzung,
Vertreibung und Vernichtung
– und wieder neuen Anfängen.

Von der Römerzeit über das Mittelalter und die Frühe Neuzeit in die Moderne – bis heute.

Im 20. Jahrhundert dann der größte Zivilisationsbruch der Geschichte, das größte Menschheitsverbrechen
– die Schoa.

Spätestens der Holocaust hätte nach jedem menschlichen Ermessen das Ende der deutsch-jüdischen Geschichte markieren können.

Stattdessen stehen wir heute hier.

Amberg ist wieder jüdisch im Herzen!

 

Doch auch diese Region – Amberg, Sulzbach, Weiden, Straubing, Regensburg, die Oberpfalz – steht für eben jene Höhen und Abgründe.

Einst pulsierte hier ein blühendes, reiches jüdisches Leben.

Regensburg ist Heimat der ältesten jüdischen Gemeinde in Bayern – sie zählte zu den bedeutendsten in Europa.

Die ganze Oberpfalz galt einst als ein wichtiges Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit.

Doch nach 1945 war jüdisches Leben auch hier in der Region beinahe vollkommen ausgelöscht.

Einige hundert „Displaced Persons“ – Überlebende von Konzentrationslagern, den Todesmärschen von Flossenbürg nach Dachau und jüdische Flüchtlinge aus dem Osten – begründeten 1945 in Amberg quasi eine neue jüdische Gemeinde – bis zur Gründung des Staates Israel.

Im Jahr 1953 lebten nur noch rund 40 jüdische Menschen in Amberg, 1989 kaum mehr 30.

Es waren die sogenannten Kontingentflüchtlinge, die in den 1990er Jahren die Gemeinde wieder mit Leben erfüllten, obgleich sie nicht wussten, ob es hier eine Zukunft,
eine jüdische Zukunft geben konnte.

Aber es gab sie. Es gibt sie.

Und auch das feiern wir heute.

Wir feiern den mutigen Schritt in ein neues Leben,
in eine neue Gemeinde,
im Herzen der Stadt,

im Herzen der Gesellschaft.

 

Und wenn wir heute hier eine Tora-Rolle heimbringen,
deren Patinnen und Paten alle deutschen Verfassungsorgane sind, dann ist das eine Heilige Schrift und es ist zugleich ein heiliges, entschlossenes Bekenntnis zum jüdischen Leben, zum jüdischen Herzen unseres Landes!

 

Meine Damen und Herren,
1.700 Jahre – stehen für unzählige jüdische Menschen,
die den Weg unseres Landes vom Agrarland
zum Industriestaat entscheidend mitgeebnet haben.

Gerade auch in Bayern gibt es zahlreiche Beispiele
für Jüdinnen und Juden, die einen wesentlichen Anteil an dem haben, was heute „typisch Bayerisch“ ist.

 

  • Etwa die Tracht.

Zwei jüdischen Schneidern – den Brüdern Moritz und Julius Wallach – verdanken wir, dass das „Dirndlgwand“ überhaupt salonfähig wurde.

Sie belieferten sogar den bayerischen Königshof.

1900 eröffneten sie das „Volkskunsthaus Wallach“ in München. Ihre Kreationen waren bis nach Berlin gefragt.

In der NS-Zeit mussten sie ihre florierende Firma für einen Spottpreis verkaufen.

In letzter Minute gelang ihnen die Flucht.

 

  • Nehmen wir das Oktoberfest.

Die elektrische Beleuchtung der Wiesn sowie der Schwabinger Straßen, der Salvatorbrauerei oder des Klinikums Rechts der Isar beruhte auf der Gleichstrom-Pionierleistung des Vaters und des Onkels Albert Einsteins, die in München die „Elektrotechnische Fabrik J.Einstein&Cie“ führten.

  • Damit zum Bier

Als die Löwenbräu AG, damals eine der größten Brauereien, vor dem Ruin stand, rettete sie Joseph Schülein, der jüdische Besitzer der Unionsbrauerei Schülein & Cie.

 

  • Schauen wir in die Alpen

Jüdische Alpinisten waren maßgeblich an der Erschließung der Alpen beteiligt.

Jüdische Unternehmer halfen, die Eisenbahn in die Berge zu bringen und sie touristisch zu erschließen.

 

  • Dann der Freistaat selbst  

Auch wenn es mitunter unterschlagen wird: Der Freistaat Bayern wurde von einem jüdischen Sozialisten begründet, Kurt Eisner – der war übrigens mitnichten ein radikaler Räterepublikaner.

Er war vielmehr ein überzeugter Anhänger der parlamentarischen Demokratie.

 

  • Und schließlich auch die Liberalitas Bavariae.

Unser oberster Leitsatz steht für Weltoffenheit, Toleranz und Großherzigkeit – kurz: leben und leben lassen. Gerade hier in der Oberpfalz hat das eine lange Tradition. Das Fürstentum Pfalz-Sulzbach war bekannt für seine Toleranzpolitik.

So gehörte es in Sulzbach in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum selbstverständlichen Alltagsbild, dass der katholische Pfarrer, der evangelische Pfarrer und der Rabbiner harmonisch beisammensaßen.

Eine Normalität des gedeihlichen Miteinanders, die bis an die Schwelle des NS-Terrors gelebt wurde.

Davon zeugen etwa die Erinnerungen der bekannten jüdischen Emigrantin Charlotte Stein-Pick, die 1939 mit dem letzten Schiff vor dem Krieg aus Hamburg flüchten konnte.

Sie beschrieb Sulzbach als: „Oase des Friedens“, die sie innig liebte.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

über 1.700 Jahre haben jüdische Menschen in allen Bereichen – Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft – Herausragendes geleistet und unser Land maßgeblich mitgestaltet, mitgeprägt.

1.700 Jahre haben jüdische Menschen ihrem Land die Treue gehalten, trotz allem – immer wieder.

Und immer wieder wurden sie enttäuscht.

Denn 1.700 Jahre – das ist auch die Geschichte von 1.700 Jahren Antisemitismus. Bis heute.

So sehr es ein Segen ist, ein Geschenk, dass Jüdinnen und Juden diesem Land die Treue hielten nach allem, was ihnen auf dem Boden der heutigen Bundesrepublik über Jahrhunderte und speziell im 20. Jahrhundert angetan wurde.

So sehr ist es eine Schande, dass wir immer noch und immer wieder ungeheuerlichen Antisemitismus erleben – wie den Terroranschlag in Halle vor zwei Jahren.

Aber auch in einer erschreckenden Vielzahl von verbalen und körperlichen Attacken wie zuletzt in Köln, Hamburg, Berlin und auch in bayerischen Städten.

Egal wo in unserem Land – es ist inakzeptabel,
dass sich jüdische Menschen oft nicht mehr trauen,
ihre Religion zu praktizieren und zu zeigen.

Das wirft einen Schatten auf uns als Gemeinwesen,
auf unsere freiheitliche Demokratie.

Lassen Sie es mich ganz klar sagen:

Antisemitismus – egal ob von links, von rechts, von Muslimen, oder aus der Mitte der Gesellschaft – er ist der Lackmusstest für unser Land, unsere Verfassung, unsere Demokratie.

 

Wir müssen hier mit aller Kraft und Entschiedenheit dagegenhalten

  • für die Opfer von einst,
  • für die heutigen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land
  • und für uns, als überzeugte Demokratinnen und Demokraten. 

 

Nach den erneuten antisemitischen Auswüchsen im Mai haben die Fraktionen von CSU, Freien Wählern, FDP, SPD und Bündnis90/Die Grünen im Bayerischen Landtag eine gemeinsame Resolution gegen Antisemitismus beschlossen.

Wir haben klargestellt, dass die Bekämpfung von Judenhass für uns höchste Priorität hat.

Die Zeit der Worte ist vorbei.

Im Kampf gegen Antisemitismus,

im Kampf für die Zukunft der jüdischen Menschen in unserem Land – zählen nur Taten!

 

Nach 1.700 Jahren ist es an der Zeit, dass die Suche und die Sehnsucht der jüdischen Gemeinschaft nach Sicherheit und Geborgenheit erfüllt werden.

 

Nach 1.700 Jahren ist es an der Zeit, dass dieses Land für seine jüdischen Bürgerinnen und Bürger eine unbedingte und unhinterfragte Heimat ist.

Dafür übernehme ich als Landtagspräsidentin Verantwortung – als Politikerin, als Demokratin, als Mensch.

Deswegen habe ich auch meine Kolleginnen und Kollegen im Landtag ermutig, die Veranstaltungen zu 1.700 Jahren jüdisches Leben in ganz Bayern zu besuchen.

Hinzugehen, Gesicht zu zeigen – und Haltung.

Sich zu bekennen – zu unserer Geschichte, unserer Gegenwart, zu unseren jüdischen Bayerinnen und Bayern und zu unserer gemeinsamen Zukunft!

 

Denn 1.700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte,

das ist vor allem eine Geschichte von Heimat.

Und Heimat heißt, hierhergehören
– ohne Wenn und Aber.

Heimat heißt, nicht allein zu sein
– mit Sorgen und Gefühlen; von der nicht endenden Trauer um Millionen jüdische Menschen, die in dieser Gemeinschaft, in unserer Mitte, fehlen, bis hin zur Solidarität mit dem jüdischen Staat.

Heimat heißt – verstanden werden.

 

Meine Damen und Herren,

nach 1.700 Jahren ist es an der Zeit, dass wir noch besser verstehen lernen.

Das ist dieses Jahr mein großer Wunsch – nicht nur in diesem Jahr.

In diesem Sinne: Es ist mir eine Herzensangelegenheit, heute hier zu sein, mit Ihnen zu feiern – nicht die schwierige Vergangenheit, aber die gute Gegenwart und eine noch bessere Zukunft.

Deutschland, Bayern und Amberg – waren, sind und bleiben jüdisch im Herzen!  

 

Vielen Dank

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