Landtagspräsidentin Barbara Stamm und Integrationsbeauftragter Martin Neumeyer besuchen Flüchtlingsprojekte in der Türkei

Montag, 30. März 2015

– Von Zoran Gojic –

Barbara Stamm, Präsidentin des Bayerischen Landtags und Martin Neumeyer, Integrationsbeauftragter der Staatsregierung, haben sich vor Ort in der Türkei über die Lage der schätzungsweise 1,8 Millionen Kriegsflüchtlinge aus Syrien informiert. Dabei waren sie in Flüchtlingslagern im türkisch-syrischen Grenzgebiet unterwegs und konnten von Politikern und Behördenvertretern aus erster Hand über die gewaltigen Anstrengungen der Türkei informieren.

Während die Männer noch ihre Worte abwägen, antworten die Frauen ohne nachzudenken und einstimmig auf die Frage, was sie tun würden, wenn in ihrer Heimat Syrien wieder Frieden herrschen würde: „Wir gehen nach Hause“. Im Flüchtlingslager Sariçam bei Adana treffen Landtagspräsidentin Barbara Stamm und der Integrationsbeauftragte Martin Neumeyer bei ihrer Informationsreise durch die Türkei auf Flüchtlinge, die Glück im Unglück hatten und dennoch zu verzweifeln drohen. Sariçam ist das erste Flüchtlingslager, das die Türkei für die Flüchtlinge errichtet hat und nach internationalen Maßstäben ist es vorbildlich. Mit sauberen sanitären Anlagen, fließend kaltem und warmem Wasser,  Gemeinschaftsräumen, Grünanlagen, Spielplätzen, Schulen, Sprachkursen für Erwachsene und der Möglichkeit, selbst zu kochen. 18 Zelt- und sechs Containerlager gibt es mittlerweile in der Türkei, in denen insgesamt 300 000 Kriegsflüchtlinge aus Syrien untergebracht sind.

Seit zwei Jahren ein Leben im Ungewissen

Aber die rund 11 000 Flüchtlinge in Sariçam, davon mehr als die Hälfte minderjährig, verharren alle seit zwei Jahren in einem Zustand der Ungewissheit. Sie sind in Sicherheit und werden gut versorgt, aber wie es weitergeht, weiß niemand so richtig. Zwar dürfen die Flüchtlinge die Unterkünfte mit Erlaubnis verlassen, sind aber zur Untätigkeit verdammt. Arbeiten dürfen sie – offiziell – nicht und viele der zum Teil hochqualifizierten Syrer zermürbt die Untätigkeit. Auch die türkischen Behörden sind zunehmend ratlos, wie Barbara Stamm und Martin Neumeyer in ihren Gesprächen immer wieder feststellen. Schon die bloßen Zahlen veranschaulichen, dass die Türkei vor gewaltigen Herausforderungen steht. Über zwei Millionen Flüchtlinge leben in der Türkei, alleine 1,8 Millionen davon kommen aus Syrien. Das große Problem sind die 1,5 Millionen Syrer, die sich auf eigene Faust in der Türkei durchschlagen. Zwar haben sie Anspruch auf kostenlose Gesundheitsversorgung und Schulbesuch, aber längst sind viele völlig mittellos und arbeiten illegal für wenig Geld, um über die Runden kommen zu können. Damit werden sie ungewollt zur Konkurrenz für die einheimischen Arbeitskräfte. Zudem steigen die Mieten wegen des gewaltigen Andrangs, insbesondere in den Ballungsräumen. Potenzial für soziale Verwerfungen, auch wenn die Lage bisher bemerkenswert ruhig ist und die Türken immer respektvoll von „Gästen“ sprechen, nie von Flüchtlingen.

Gesetzesänderung geplant, damit Flüchtlinge arbeiten dürfen

Im Innenministerium erklärt der stellvertretende Staatssekretär Namik Demir, man arbeite an einer Gesetzesänderung, die den Syrern die Arbeitsaufnahme in der Türkei erlaube und etabliere derzeit ein System zur Erfassung aller Flüchtlinge im Land. Außerdem soll unter dem Motto „Politik der offenen Tür“ die Einbürgerung von Syrern unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht werden. Darauf wollen manche Syrer nicht warten, sondern einfach nur weg, weiter, irgendwohin, wo man ein normales Leben führen kann. Für diese Menschen ist Europa die letzte Hoffnung und das bietet Schleuserbanden ein lohnendes Geschäftsmodell, wie Özdemir Çakacak, Bürgermeister der Hafenstadt Mersin einräumt. „Die Küste unserer Provinz ist 321 Kilometer lang und die Schleuser halten sich in der Regel in internationalen Gewässern auf. Allerdings haben wir die Kontrollen und die Strafen drastisch verschärft, seitdem ist die Situation besser geworden. Aber was genau jetzt passiert, können wir nicht wissen, das ist eine Schattenwelt.“ Auch im Innenministerium in Ankara gibt man zu: „Die Schleuser sind kreativ und ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, ihr Geschäft zu betreiben“, sagt der Abteilungsleiter für Außenbeziehungen, Ilker Haktankaçmaz. Martin Neumeyer glaubt, dass Kontrollen und Strafen alleine nicht reichen werden: „Wir müssen den Menschen vor Ort Perspektiven bieten. Und das kann die Türkei alleine nicht, sie braucht unsere Solidarität.“

Fehlender Schulunterricht ist eine Zeitbombe

Ein viel größeres Problem als Schleuserbanden ist die Bildungsthematik. Von den etwa 700 000 schulpflichtigen syrischen Flüchtlingskindern besucht nur etwa ein Viertel die Schule. „Das ist eine Zeitbombe. Was soll aus diesen Kindern werden, die aus dem Bildungssystem ausgeschlossen sind? Sie steuern auf ein Leben ohne Perspektive zu und vielleicht werden sie dann anfällig für extremistische Verführer, die ihnen eine Aufgabe bieten“, erklärt Barbara Stamm und warnt: „Wenn wir da nichts unternehmen, fällt uns das wieder auf die Füße.“ Die Türkei nimmt Stamm dabei ausdrücklich in Schutz. „Wenn man sich die Dimension hier ansieht, ist es bemerkenswert, was die Türkei geleistet hat.“ Und die türkischen Behörden nehmen die Verantwortung weiterhin an, wie sie immer wieder betonen. Fatih Özer von der Behörde für Katastrophenschutz, die zuständig für die Flüchtlinge ist, formuliert die Stimmung folgendermaßen: „Wir haben insgesamt über zwei Millionen Flüchtlinge im Land und zur Not bringen wir auch doppelt so viel unter. Dann schlafen sie eben in unseren Häusern.“

Niemand beklagt sich, aber mehr Unterstützung wäre erwünscht

Gleichgültig, mit wem man spricht: niemand beklagt sich, aber man wünscht sich mehr Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft. „Die Türkei hat über fünf Milliarden Dollar für die Flüchtlinge aufgewendet. Bekommen hat sie von der Staatengemeinschaft bisher 300 Millionen. Wir haben manchmal das Gefühl, wir sehen das hier vor allem unter dem menschlichen Aspekt, während die USA und die EU das eher unter dem politischen Aspekt betrachten“, so Özer. Barbara Stamm gibt ihm recht: „Wir müssen aufwachen und erkennen, was da vor unseren Augen geschieht.“ Einer der Gründe, weshalb die Situation trotz der gewaltigen Zahlen nicht außer Kontrolle gerät, ist das Engagement vieler Nichtregierungsorganisationen, 90 Prozent davon aus der Türkei. Mit Billigung der Behörden übernehmen sie vor Ort  viele Aufgaben, die der Staat gar nicht bewältigen könnte. Etwa das "Syrian Social Gathering" in Mersin. Hochprofessionell werden hier Flüchtlinge betreut und beraten, keineswegs nur Syrer. „Zu uns kommen alle, unabhängig von Herkunft oder Religionszugehörigkeit“, erläutert Yasmin Holoubi aus dem Vorstand der Organisation. Hier werden Identitätsnachweise und andere Ersatzdokumente ausgestellt, die von den Behörden anerkannt sind. Gesundheitsversorgung auf Arabisch, Rechtsberatung, Sprachkurse – all das wird angeboten und es gibt sogar ein internes Qualitätsmanagement nach internationalen Standards. „Das ist ja fast gründlicher als in Deutschland“, staunt Barbara Stamm.

Auf der Suche nach ausländischen Partnern

Die Organisation ist auf der Suche nach ausländischen Partnern und Stamm könnte sich vorstellen, dass sich die politischen Stiftungen hier sinnvoll einbringen könnten. Dem Vorsitzenden Ziad Mnella ist eine Sache besonders wichtig: „Es wäre hilfreich, wenn die Europäische Union ein jährliches Kontingent, egal wie klein, von legaler Einwanderung zulassen würde. Dann könnten wir die Menschen davon abbringen, ihr Leben beim Versuch illegaler Einwanderung über das Mittelmeer zu riskieren. Diejenigen, die gehen wollen, haben dann wenigstens eine Perspektive und erfahren unter welchen Voraussetzungen sie nach Europa gelangen könnten. Das würde vielen auch bewusst machen, ob sie eine realistische Chance hätten, in Europa ein besseres Leben zu führen.“ Martin Neumeyer verweist darauf, dass Deutschland und Schweden gemeinsam ohnehin 50 Prozent der Flüchtlinge in Europa aufnehmen, räumt aber ein: „Bei dieser Dimension müssen wir vielleicht politisch neu denken.“
Eine Möglichkeit dazu wäre möglicherweise das Engagement im Bildungsbereich. Rund 120 000 Euro kostet nach Angaben der Behörden der Bau einer Schule, viele syrische Lehrkräfte würden gerne ehrenamtlich arbeiten, einfach, um etwas tun zu können. Beim Besuch des „Wissens- und Ausbildungszentrums für syrische Gäste“ in der Stadt Gaziantep erleben Stamm und Neumeyer, wie wichtig ein geregelter Tagesablauf und Unterricht für die Kinder ist, die oft Schlimmes hinter sich haben. 1300 Schüler werden hier unterrichtet, 400 davon sind Waisen, bei 300 weiteren ist das Schicksal der Eltern unklar. Ohne diese Einrichtung wären sie völlig auf sich alleine gestellt. Schulleiter Abdullah Yazgan wirbt um Unterstützung. „Wir bekommen oft Besuch von Delegationen und alle sind gerührt. Aber nichts passiert. Wir sind dankbar für jede Hilfe. Ich würde zum Beispiel  unseren Lehrern gerne ein richtiges Gehalt zahlen. Und mehr Kinder unterrichten. Allein in Gaziantep gehen 40 000 Kinder nicht zur Schule“. Barbara Stamm sagt zu, in Deutschland dafür zu werben. „Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung. Europa muss aufwachen.“

„Wir müssen Entwicklungs- und Flüchtlingshilfe anders denken“

Immerhin: es gibt vorbildliche Projekte mit deutscher Beteiligung. Bei der Eröffnung des „Community Center“ in der Stadt Nizib erfahren Stamm und Neumeyer, dass auch übergreifend gedacht wird. Hier ist mit Beteiligung des Volkshochschulverbandes eine Fortbildungs- und Begegnungsstätte entstanden, die nicht nur Flüchtlingen, sondern auch den Einheimischen offen steht. Ein Schritt, um gegenseitiges Verständnis aufzubauen und Spannungen vorzubeugen. Hier gibt es neben Sprachkursen auch eine Kindertagesstätte, in der die Frauen ihre Kinder betreuen lassen können, während sie Kurse besuchen und psychologische Beratung. Barbara Stamm zeigt sich beeindruckt und lobt den Ansatz ausdrücklich. „Wir müssen anfangen Entwicklungs- und Flüchtlingshilfe anders zu denken und die Bildung in den Mittelpunkt rücken. Bildung ist das wichtigste, wenn wir das vergessen, werden wir es bereuen.“


"Wir müssen die Ursachen der Flucht bekämpfen"



Bei der Oberbürgermeisterin von Gaziantep, Fatma Şahin, verstärkt sich der Eindruck, dass man in der Türkei dazu übergeht, über die kurzfristige Versorgung hinaus zu denken. Alleine in Gaziantep, leben 300 000 Flüchtlinge, die damit gut 20 Prozent der Bevölkerung stellen. „Wir müssen das auf eine politische Ebene heben und mittel- bis langfristig denken“, ist Şahin überzeugt. „Wir müssen ganz neue Strukturen entwickeln, aber damit darf man uns nicht alleine lassen“, sagt die frühere türkische Sozialministerin und stößt damit auf Verständnis bei Barbara Stamm. „Ich fürchte, vielen in Europa ist nicht richtig bewusst, was hier gerade geschieht.“ Şahin stellt klar, dass sie dabei nicht ausschließlich an finanzielle Unterstützung denkt. „Wenn wir eine richtige Lösung wollen, müssen wir die Ursache der Flucht beenden und den Konflikt in Syrien befrieden. Ich sehe keine andere Möglichkeit.“ Sorgen um die gesellschaftliche Balance in ihrer Stadt macht sich Şahin nicht. „Diese Gegend hat eine sehr lange Geschichte der Einwanderung, hier haben Menschen unterschiedlichster Herkunft und Religion seit jeher friedlich zusammen gelebt. Wir schaffen das“, ist Şahin überzeugt.

Frauen werden oft als erste zu Opfern

Zum Abschluss der Reise empfängt die Vizepräsidentin des türkischen Parlaments, Ayşe Bahçekapılı, die Gäste aus Bayern. Schnell ist sie sich mit Barbara Stamm einig, dass besonders Frauen unter diesem Konflikt leiden und man sie besonders unterstützen muss. „Frauen werden in solchen Krisensituationen oft als erste Opfer von Gewalt und dagegen muss man entschieden vorgehen“, erklärt Bahçekapılı und auch sie betont: „Ohne Frieden im Syrien wird dieses Problem immer größer“. Barbara Stamm sichert zu, das Thema mitzunehmen und sich dafür einzusetzen, das Bewusstsein zu schärfen. „Wenn man sich diese Dimensionen hier ansieht, führen wir manchmal vielleicht nicht die richtigen Debatten. Es geht hier nicht nur um Bayern oder Deutschland. Wir müssen das europäisch angehen.“ Am Ende wird wieder deutlich, wie groß die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Türken ist. Auf die Frage, wie es weitergehen solle, wenn auf absehbare Zeit kein Frieden in Syrien einzieht, stellt Bahçekapılı gelassen, aber bestimmt, einen großen Satz in den Raum: „Solange die Türkische Republik existiert, werden diese Menschen unsere Gäste sein.“
 

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