„Es ist Zeit, über das Leid und Unrecht zu reden!“ – Im Gespräch mit Menschen, die als Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben

Freitag, 16. März 2018
– Von Sonja Schwarzmeier –

Über Jahrzehnte haben zahlreiche Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und  Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren. Noch heute leiden Betroffene an den Folgen der körperlichen, seelischen oder sexualisierten Gewalt, denen sie als Kinder und Jugendliche von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland, beziehungsweise von 1949 bis 1990 in der DDR, ausgesetzt waren. Im Jahr 2017 wurde gemeinsam von Bund, Ländern und Kirchen die „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ ins Leben gerufen, um betroffenen Menschen bei der Aufarbeitung der Erlebnisse zu unterstützen und die Folgewirkungen des Erlebten abzumildern. In einer gemeinsamen Veranstaltung haben der Bayerische Landtag und das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration diejenigen zu Wort kommen lassen, denen als Kinder und Jugendliche großer Schmerz zugefügt wurde und die lange Zeit keine öffentliche Anerkennung und Aufmerksamkeit für ihr Leid erfahren haben.

Landtagspräsidentin Barbara Stamm begrüßte die knapp 250 Gäste und erklärte: „Nicht über erlittenes Unrecht sprechen zu dürfen, nicht ernst genommen zu werden mit traumatischen Erfahrungen, das verletzt noch einmal zutiefst und kann das Leben unendlich schwierig machen.“ Gemeinsam mit dem Sozialministerium, dem Sozialausschuss und der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ wolle man mit der Veranstaltung „den Betroffenen Aufmerksamkeit schenken und Hilfestellungen bei der Aufarbeitung geben“, so Stamm.

Joachim Unterländer, Vorsitzender des Sozialausschusses, versprach den Betroffenen, dass „die heute politisch Verantwortlichen alles tun werden, um zu helfen, aufzuarbeiten und Perspektiven aufzuzeigen, dass so etwas nicht mehr vorkommt“.

Sozialpsychologe und emeritierter Professor der Ludwig-Maximilian-Universität München, Professor Dr. Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, plädiert für eine Aufarbeitung auf mehreren Ebenen: Zum einen benötigten Betroffene eine individuelle Aufarbeitung der Geschehnisse und eine gute, therapeutische Begleitung. Zum anderen sei eine institutionelle Aufarbeitung, die Wahrnehmung und Akzeptanz der Einrichtungen ein wichtiger Schritt für die psychische Verarbeitung durch die Betroffenen. Letztendlich sei noch die gesellschaftliche Aufarbeitung notwendig, um vor allem systemisch-organisatorische Verfehlungen für die jahrzehntelang andauernden Missstände aufzudecken.

Betroffene leiden noch heute unter den Erlebnissen

In der anschließend von Anouschka Horn moderierten Gesprächsrunde erzählten ehemalige Heimkinder, was ihnen als Kindern und Jugendlichen Schreckliches widerfahren ist. Der gehörlose Erwin Winkelmann berichtete von schweren, körperlichen Misshandlungen in der Kreistaubstummenanstalt in Würzburg „bis die Nase gebrochen ist“. Auch dass die Erzieherinnen und Erzieher den gehörlosen Kindern „das Sprechen mit den Händen verboten haben“ und sie „regelmäßig an den Haaren gezogen und in den Keller wegesperrt“ hätten, erzählte Winkelmann. Von der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ habe er erstmals letztes Jahr im Oktober erfahren und auch bereits eine finanzielle Anerkennung bekommen – angesichts der auch heute noch präsenten, psychischen Beeinträchtigungen für ihn „ein Tropfen auf den heißen Stein“, so Winkelmann.  

Helga Haun war als Kind ebenfalls in der Kreistaubstummenanstalt in Würzburg untergebracht und bestätigt die fürchterlichen Vorkommnisse. Auch sie und ihre taubstumme Schwester hätten wegen des schlechten Essens häufig erbrochen und wurden deshalb regelmäßig geschlagen. Für die Zukunft wünsche sie sich mehr Anerkennung und Akzeptanz für Gehörlose und die Gebärdensprache.

Der hochgradig schwerhörige Achim Blage empfindet nach wie vor „Hass für diejenigen, die diese Dinge getan haben“. Blage, der in der Taubstummenanstalt Friedberg untergebracht war, erläutert: „Als Erwachsene hören wir immer wieder ‚Entschuldigung‘. Ich lehne sie auch nicht ab, ich akzeptiere sie. Aber was ich nicht akzeptiere, ist, dass die Direktoren, Pädagogen und die damals in der Verantwortung Stehenden, Ehrenmedaillen und Urkunden verliehen bekamen. Eine Aberkennung dieser Auszeichnungen wäre für mich eine echte Anerkennung.“ Nach eigener Aussage leide auch er noch immer an „inneren Narben und einer psychischen Störung“.

Michael Langbein litt als Kind unter schweren Sprachfehlern und berichtete von Gewalt unter den Kindern und Jugendlichen im Heim. Dem Personal macht er keinen Vorwurf – dieses wäre wegen der personellen Unterbesetzung völlig überfordert gewesen und wurde selbst Opfer körperlicher Angriffe. Er fühlt sich von der Stiftung gut beraten und nimmt die Therapie- und Gesprächsangebote gerne in Anspruch.

Sozialstaatssekretär Johannes Hintersberger bat die Vertreter der Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Ämter weiterhin über die Angebote der Stiftung zu informieren und sie so noch bekannter zu machen: „Wir wollen über das Leid und Unrecht, das geschehen ist, offen reden. Die bayerische Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung unterstützt die Menschen bei der Aufarbeitung ihrer schlimmen Erfahrungen. Wir können das Leid nicht ungeschehen machen, aber wir können es öffentlich machen, anerkennen und Hilfe anbieten.“

Seit Anfang 2017 bietet die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ den betroffenen Menschen Beratung und finanzielle Anerkennungsleistungen. Bis jetzt haben 150 Betroffene Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen in Höhe von insgesamt 1,5 Millionen Euro erhalten. Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ hat eine fünfjährige Laufzeit, von 2017 - 2022. Leistungen müssen jedoch innerhalb einer Dreijahresfrist beantragt werden. Betroffene sollten sich deshalb bis Ende 2019 an ihre zuständige Anlaufstelle wenden.

Nähere Informationen: http://www.stiftung-anerkennung-und-hilfe.de

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