Empfang des Bayerischen Landtags für und mit den Sinti und Roma in Bayern

Den Teufelskreis durchbrechen

15. Mai 2023

„Es ist wichtig, dass wir miteinander reden. Es ist wichtig, dass wir offen miteinander reden“, begrüßte Landtagsvizepräsident Thomas Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die rund 150 Gäste des „Empfangs des Bayerischen Landtags für und mit den Sinti und Roma in Bayern“, darunter auch Vertreter von Politik, Religionsgemeinschaften, Polizei, Justiz und Konsularischem Korps sowie der I. Landtagsvizepräsident und Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, Karl Freller (CSU).

Der aufgrund des Corona-Lockdowns um zwei Jahre verschobene Empfang finde in einer krisenhaften Zeit statt – Pandemie, russischer Angriffskrieg, Klimawandel und Migration, so Gehring. Dies habe Folgen auch für „unsere Demokratie“. „Sie wird bedroht – von außen, von Imperialisten und autokratischen Systemen. Und sie ist unter Beschuss – auch von innen.“ Krisen seien ein Nährboden für Radikale, die dann Minderheiten zum Sündenbock machten. Die alten Vorurteile gegen Sinti und Roma hielten sich hartnäckig in Teilen der Gesellschaft, es komme auch zu Gewalt. So seien unter den neun Todesopfern des rassistischen Anschlages von Hanau auch drei junge Roma gewesen. Es müsse ein Ende haben, dass viele Sinti und Roma, die größte Minderheit Europas, aus Angst „ihre Herkunft verbergen und ihre Sprache, ihre Geschichte, ihre Kultur verschweigen“.

Verschweigen, Verdrängen, Verleugnen

Zugleich wolle man mit dem Empfang mehr „über die reiche Kultur der Sinti und Roma und die Stimmungen und Wünsche in der bayerischen Community“ erfahren, so der Landtagsvizepräsident. Der Staat sei verpflichtet, die Kultur, Sprache und Identität der anerkannten Minderheit zu schützen und zu fördern. Gehring mahnte: „Das ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe!“ Vor fünf Jahren habe der Bayerische Landtag dem Staatsvertrag mit dem Bayerischen Landesverband Deutscher Sinti und Roma einstimmig zugestimmt. 2023 habe es zusätzliche finanzielle Mittel und weitere Maßnahmen wie eine neue Monitoringstelle gegeben.

Besonders wichtig sei auch die Erinnerung an die Geschichte, speziell an Verfolgung und Völkermord im Nationalsozialismus. Ganz bewusst sei der Jahrestag des Aufstands der Sinti und Roma im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau am 16. Mai 1944 (siehe Kasten unten) diesem Empfang zugrunde gelegt worden. „So unfassbar es bleibt, was den Sinti und Roma im Nationalsozialismus angetan wurde, so unfassbar ist es, dass das Leid nach 1945 nicht endete“, erklärte Gehring. In Politik, Verwaltung, Justiz und Gesellschaft hätten sie „Verschweigen, Verdrängen, Verleugnen, Verharmlosen und sogar Rechtfertigung“ erfahren. Unvergessen bleibe auch der Hungerstreik in der KZ-Gedenkstätte Dachau am 4. April 1980, der eine breite internationale Solidaritätswelle ausgelöst habe. Die Diskriminierung setze sich aber bis heute fort. „Viele sehen ihre Stereotype bestätigt, weil Sinti und Roma leider allzu oft in prekären Lebenssituationen – am Rande der Gesellschaft – gefangen sind. Dass das ein von außen bestimmter Teufelskreis aus Diskriminierung ist – vom Kindergarten über Schule, Ausbildung bis zum Arbeits- und Wohnungsmarkt – das wollen die meisten nicht sehen.“

Die Spitze des Eisberges

Nach einer Gedenkminute für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma und die Opfer von Hass und Hetze seither erinnerte auch Erich Schneeberger, Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma Landesverband Bayern e.V., an den Aufstand 1944 im sogenannten „Zigeunerlager“ des Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Viele wurden auch in der NS-Zwangsarbeit eingesetzt, darunter Schneebergers Mutter. „500.000 Sinti und Roma wurden Opfer der industriellen Vernichtung durch das NS-Regime“, so Schneeberger. Ihre Ermordung wurde in einer Wannsee-Nachfolgekonferenz beschlossen, „ein akribisch geplantes Verbrechen“. Dabei seien sie nicht nur in Bayern seit Generationen verwurzelt gewesen, viele hätten im Ersten Weltkrieg in der kaiserlich-deutschen Armee gedient. Doch selbst nach dem Ende des NS-Regimes seien die Überlebenden oft auf die gleichen Beamten getroffen, die diesen Völkermord als „Zigeunerexperten“ begleitet hatten. Es kam zu einer „Selbstentlastung der Täter, die ihre Verbrechen verschleierten“.

Bis heute gebe es Diskriminierung und Antiziganismus, dies zeige sich auch in Studien zur Einstellung der Bevölkerung zu diesem Thema. 2022 habe es in Deutschland zudem mit 145 einen historischen Höchststand der antiziganistischen Straftaten gegeben, ein Anstieg um 33 Prozent. Dies sei aber nur die „Spitze des Eisberges, mit einer hohen Dunkelziffer nicht angezeigter Taten“. Dies bestätigten die Münchner Studie von 2021 zur Hasskriminalität sowie die Ergebnisse der Unabhängigen Kommission Antiziganismus. Zugleich lobte Schneeberger „viele positive Entwicklungen“ wie die neue Monitoringstelle in Bayern, die landesweit alle antiziganistischen Vorfälle erfassen soll. Der Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus habe konkrete Forderungen erbracht: So brauchte es einen Beauftragten gegen Antiziganismus, den es mit dem anwesenden Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler nun gebe. Zudem forderte die Kommission die Schaffung einer Bund-Länder-Kommission, die umfassende Anerkennung des NS-Genozids an Sinti und Roma, die Umsetzung und Verstetigung von Partizipationsstrukturen, eine Kommission zur Aufarbeitung des an Sinti und Roma begangenen Unrechts in der Bundesrepublik Deutschland sowie eine Anerkennung geflüchteter Sinti und Roma als besonders schutzwürdige Gruppe. Seit 15 Jahren fordere man auch einen Sitz im Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks. Aber: „Wir sind seit vielen Jahrhunderten in diesem Land verankert, werden immer noch angefeindet und zum Sündenbock gemacht“, mahnte der Verbandsvorsitzende.

In der Herzkammer

Es folgten zwei durch den BR-Journalisten Rainer Maria Jilg moderierte Podiumsgespräche. Dr. Ludwig Spaenle, MdL (CSU), Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe, machte klar, dass der Abschluss des Staatsvertrages zwischen dem Freistaat Bayern und dem Verband Deutscher Sinti und Roma Landesverband Bayern e.V. unter dem damaligen Ministerpräsidenten Horst Seehofer ein „klares Bekenntnis“ für die Sinti und Roma gewesen sei. In der NS-Zeit seien auf deutscher Seite bis zu 400.000 Menschen am Holocaust aktiv beteiligt gewesen, nur ein Bruchteil davon sei später verurteilt worden. Dass zum Teil dieselben Beamten nach 1945 mit der sogenannten „Landfahrerkartei“ wieder an Diskriminierung und Kriminalisierung der Sinti und Roma beteiligt gewesen seien, sei „eine unglaubliche Schande für unser Land“, bekräftigte Spaenle. Der bayerische Staatsvertrag sei ein „Vorbild“ für andere Bundesländer gewesen, lobte Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland. Viele Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiziganismus seien Ländersache, daher müssten die Impulse auch aus diesen kommen. Er zitierte den US-Schriftsteller William Faulkner: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“ Daimagüler berichtete von seinem ersten Besuch in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und den Gaskammern dort. „Die Vorstellung, dass dieser Raum das Letzte war, was so viele Frauen, Kinder und Männer gesehen haben“, sei schwer zu ertragen. In seiner 13-jährigen Schulzeit habe er aber nicht ein Wort zum Völkermord an den Sinti und Roma gehört. Der Beauftragte erzählte auch von einem Gespräch mit einer jungen Sintizza, die als städtische Angestellte in Deutschland ihre Herkunft nicht offenbare, weil sie sonst Nachteile befürchte. Daimagüler: „Die Würde des Menschen ist unantastbar, auch die der Sinti und Roma.“ Diskriminierung und Vorurteile gebe es aber immer noch „jeden Tag“, auch in Behörden- oder Polizeikreisen, und eben nicht nur durch Rechtsradikale. Das Lernen aus der Vergangenheit mache Demokratien aber „wetterfest“.  Dr. Jane Weiß, Referentin der Bundeszentrale für Politische Bildung und Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, mahnte die dauerhafte Umsetzung und Verstetigung von Partizipationsstrukturen an. Dafür bedürfe es auch finanzieller Ressourcen, Professionalität, weniger Bürokratie und Lobbyismus. „Dieser Empfang für und mit den Sinti und Roma in der Herzkammer der bayerischen Demokratie ist ein Zeichen des Fortschritts.“ Weiß bemängelte auch fehlendes Wissen in der Gesellschaft hinsichtlich der Stereotypen zu Sinti und Roma. Die Medien hätten hier eine besondere Rolle im Kampf gegen Antiziganismus. Insgesamt sei es noch „ein weiter Weg“.

In der zweiten Debatte erklärte Radoslav Ganev, Mitgründer des Studierendenverbandes Sinti und Roma in Deutschland, dass es auch an den Hochschulen noch zu Diskriminierung komme. Eine junge Grundschullehramtsstudentin habe sich bei ihm gemeldet, um mitzumachen, wollte aber nicht namentlich genannt werden - weil sonst einige Eltern möglicherweise ihre Kinder nicht zu ihr lassen könnten. Sich als Sinti oder Roma zu „outen“, erfordere viel Mut. Man müsse darum die Sensibilität für bestimmte Themen möglichst früh erhöhen, am besten schon in der Schule. Isabel Raabe, freie Kuratorin und Mitinitiatorin des ►„RomArchive – Digitales Archiv der Sinti und Roma“, lobte dieses erste Projekt in Europa, das alle Kunstsparten wie Musik, Tanz oder Film und Bereiche wie die Bürgerrechtsbewegung, die Bilderpolitik und die Stimmen von NS-Opfern der Sinti und Roma vereine. Finanziert durch die Kulturstiftung des Bundes seien dort alle inhaltlichen Entscheidungen durch Sinti und Roma selbst getroffen worden.

Inzwischen habe das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg die Trägerschaft übernommen. „Kunst und Kultur sind geeignete Instrumente, um den Einfluss der Sinti und Roma sichtbar zu machen“, betonte Raabe. Benjamin Adler, Bildungsreferent der MadHouse gemeinnützige GmbH München, sagte, dass die Probleme der Sinti und Roma die gleichen seien, wie die aller anderen Bürger – nur mit dem Aspekt einer möglichen Diskriminierung, etwa bei der Wohnungssuche oder der Jobbewerbung. Alle Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiziganismus ergänzten sich gegenseitig. „Wir überzeugen einen überzeugten Rassisten nicht mehr, aber wir können am unbewussten Antiziganismus arbeiten, dort, wo das Wissen fehlt“, betonte Adler.

Der Aufstand des 16. Mai 1944

Ab 1943 wurden Sinti und Roma auch nach Auschwitz deportiert, in ein eigens für sie errichtetes Lager. Am 16. Mai 1944 verbarrikadierten sich mehrere Tausend Roma und Sinti in den Baracken und wehrten sich mit selbstgebauten Waffen und Werkzeugen gegen ihre geplante Vernichtung. Sie hatten mitbekommen, dass die SS das sogenannte "Zigeunerlager" auflösen und dessen Insassen liquidieren wollte. Aufgrund des erbitterten Widerstands der Sinti und Roma, darunter auch ehemalige Wehrmachtsangehörige, musste die SS die geplante Aktion zunächst abbrechen. Nach dem Aufstand wurden alle jungen Männer und Frauen mitsamt ihren Familien in andere Konzentra­tions­lager gebracht, um die Gruppe zu schwächen. In der Nacht des 2. August 1944 überfiel und ermordete die SS dann die restlichen Häftlinge. Von den rund 23.000 Insassen des „Z-Lagers“ in Auschwitz starben mindestens 19.300. Insgesamt wurden rund 500.000 Sinti und Roma während des Holocausts getötet. Viele Sinti und Roma nennen diesen Genozid heute "Porajmos", was "Verschlingung" oder "Zerstörung" bedeutet. Zur Erinnerung an den Widerstand in Auschwitz gilt der 16. Mai als „International Roma Resistance Day“. Das Europäische Parlament erklärte 2015 den 2. August zum europäischen Holocaust-Gedenktag für die ermordeten Roma und Sinti.

Weitere Bilder des Empfangs finden Sie unter ►Pressefotos.

/ Andreas von Delhaes-Guenther

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