"In der Krise steht die Demokratie nicht still"

Landtagspräsidentin Ilse Aigner über den richtigen Weg in Zeiten von Corona

Von Ilse Aigner, MdL
Präsidentin des Bayerischen Landtages

Vor dem Bayerischen Landtag habe ich vor wenigen Tagen drei weiße Fahnen gehisst. Damit wird – wie auch an anderen Orten in München – der Befreiung der Stadt durch die US-Army vor 75 Jahren gedacht. Ein wichtiges Datum, das auch in Corona-Zeiten nicht vergessen werden darf. Das Nazi-Terrorregime hatte Parlamente entmachtet und aufgelöst, die Demokratie war abgeschafft. Im Führerstaat herrschte eine Ideologie, die keinen Widerspruch zuließ. Gewalt, Lager, Tod waren im Alltag präsente Instrumente des Machterhalts. Im Nationalsozialismus zählte der einzelne Mensch gegenüber der Volksgemeinschaft nichts.

Heute, ein dreiviertel Jahrhundert später, hat unser Land eine lebendige Demokratie. Parlamente sind Orte der Debatten und Entscheidungen. Regierungen beweisen auch in der Krise ihre Handlungsfähigkeit. Medien begleiten die Politik mit breitem Meinungsspektrum. Wir leben den Pluralismus: Vielfalt in Einheit atmet unser politisches System aus jeder Pore. Wir wägen Interessen ab, balancieren Werte aus und leben vom Kompromiss. Politische Entscheidungen sind sogar rückholbar durch Regierung, durch Parlament oder durch Gerichte – das ist ein hohes ethisches Gut unserer Gewaltenteilung.

Nun stellt das Corona-Virus unsere föderale Demokratie auf die Probe. Es gibt vielerorts deutlich wahrnehmbar eine Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten. Nach Haltungen, die unabänderlich stehen. Nach einem Kurs, der immer gehalten wird. Nach Maßnahmen, die überall in Deutschland und für alle gleich gelten.

Unsere Demokratie ist ein lernendes System. Wir hören den Rat verschiedener Experten mit unterschiedlichen Botschaften. Wir gewinnen immer neue Erkenntnisse, je länger die Krise dauert. Bei allen Abwägungen steht unser Menschenbild, die Würde jedes Einzelnen, im Vordergrund. Das unterscheidet uns von der völkisch-rassistischen Ideologie der Nazis, von der wir vor genau 75 Jahren befreit wurden. Denn bei uns ist jeder Mensch gleich viel wert. Um jeden Einzelnen wollen wir kämpfen: um die Vorerkrankten, um die Alten, um die Jungen. Es ist uns eine Lehre aus Zeiten von Krieg, Diktatur und Terror. In der Frage von Leben und Tod könnte in einem überforderten Gesundheitswesen sehr schnell die Würde des Menschen auf dem Spiel stehen.

In diesen Tagen stimmt mich auch eine merkwürdige Föderalismus-Diskussion nachdenklich. Ja, wir handeln in Deutschland von Land zu Land unterschiedlich, auch weil die Lage unterschiedlich ist. Wer jedoch in diesem Zusammenhang von einem „Flickenteppich“ spricht, macht sinnvolle, regional angepasste Lösungen verächtlich und stellt im Grunde unser bundesstaatliches System infrage. Dass dann diesseits und jenseits der Landesgrenzen andere Regeln gelten, liegt in der Natur der Sache. Ein Chaos ist das keineswegs. Bayern wird durch die Grenzlage zu Österreich und Tschechien immer andere Regelungen in direkter Nachbarschaft haben.

Und da, wo man trotz Gemeinsamkeiten unterschiedliche Wege geht, kann der Vergleich für die Suche nach dem besten Weg lehrreich und hilfreich sein. Das ist keine Schwäche, sondern die Stärke unseres Föderalismus. Ein Blick auf zentralistisch regierte europäische Länder verstärkt die Erkenntnis, dass die Bundesrepublik in dieser Pandemie sehr gut funktioniert und den Vergleich keineswegs zu scheuen braucht.

In der Corona-Krise sind sachliche Debatten über den richtigen Weg absolut notwendig. Sie bereichern uns in Abwägung und Entscheidung. Wir müssen sie führen, differenziert und lebhaft: im Bayerischen Landtag, im deutschen Bundestag, in den Medien. Auch in der Krise steht die Demokratie nicht still – jeder soll seine Meinung äußern, denn Schutzmasken sind keine Maulkörbe. Nur so bremsen wir den Populismus aus.

Wir haben in dieser schrecklichen Pandemie Menschenleben verloren – das ist bitter. Zugleich haben wir bislang mit hoher Disziplin und nach den Geboten von Klugheit und Vernunft sehr viel mehr Menschenleben retten können. Das haben wir gut gemacht. Ich vertraue unserer Demokratie. Sie wird uns den Weg zurück in die Normalität weisen.

 

Ein Gespräch zu diesem Thema hat Landtagspräsidentin Ilse Aigner auch mit der Süddeutschen Zeitung geführt. Den Artikel dazu finden Sie ► hier.

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