Der Bayerische Landtag in Europa: „Entscheidend sind kurze Wege und frühzeitige Informationen“

Im Gespräch mit Carolin-Charlotte Kosel, der neuen Leiterin des Verbindungsbüros in Brüssel

21.11.2019

BRÜSSEL. Die ersten 100 Tage sind schon fast herum: Anfang September hat Carolin-Charlotte Kosel die Leitung der Kontakt- und Informationsstelle des Bayerischen Landtags in Brüssel neu übernommen. Seit 2010 unterhält Bayerns Parlament dort in der Rue Wiertz 77 – nur einen Steinwurf vom Europäischen Parlament und dem Ausschuss der Regionen entfernt – sein Verbindungsbüro. Die Redaktion sprach mit der 40-jährigen Diplom-Geografin mit Schwerpunkt Sozial- und Rechtswissenschaften über ihre neuen Aufgaben in der Europa-Metropole.

Frau Kosel, mit welchen Erwartungen haben Sie die neue Funktion in Brüssel übernommen?
„Ich freue mich mich sehr über die neue und spannende Aufgabe im Herzen Europas – nun im Dienste und aus der Perspektive des Bayerischen Landtags. Brüssel ist für mich ja kein neues Pflaster. Vor meinem Wechsel zum Landtag war ich bereits sieben Jahre für die europapolitische Interessensvertretung des bayerischen Handwerks hier vor Ort tätig. Nach wie vor ist die EU sehr komplex, ihr System ist für viele Bürgerinnen und Bürger schwer verständlich. Ich hoffe, dass es mir gelingt, durch meine Arbeit diese Komplexität etwas zu entwirren. Für die Akzeptanz der EU ist von entscheidender Bedeutung, dass deren Arbeit immer und immer wieder den Bürgerinnen und Bürgern erklärt wird. Vor allem aber möchte ich, dass die Kontakt- und Informationsstelle für die bayerischen Abgeordneten zur ersten Anlaufstelle für ihre wichtigen europapolitischen Aktivitäten wird.“


Warum ist es für den Bayerischen Landtag so wichtig, in Brüssel „vor Ort“ zu sein?


„Die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen in Bayern spüren in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens die Auswirkungen europäischer Regelungen wie beispielsweise im Bereich des Umwelt- und Verbraucherschutzes oder bei der Standardisierung von Dienstleistungen und Produkten. Ein gutes Ergebnis wird immer dann erzielt, wenn die auf regionaler und lokaler Ebene gemachten Erfahrungen bei der praktischen Anwendung von EU-Recht in den Meinungsbildungsprozess der EU einfließen. Entscheidend ist es daher für den Landtag, möglichst frühzeitig von beabsichtigten neuen Regelungen der EU oder Vorhaben zur Änderung der bestehenden Gesetzgebung zu erfahren. Je früher der Landtag informiert ist, desto eher kann er bayerische Interessen einbringen und seine Mitsprachemöglichkeiten effektiv wahrnehmen.“

Welche Rolle spielen kurze Wege in die Institutionen?
„Eine sehr wichtige. Blicke ich aus den Fenstern der Büroräume, befindet sich auf der einen Seite das Europäische Parlament und auf der anderen Seite der Ausschuss der Regionen (AdR). Die Vertretung des Freistaates Bayern bei der EU, in der auch die Kontakt- und Informationsstelle des Landtags untergebracht ist, liegt also mitten im Herzen des Europaviertels. Diese zentrale Anbindung zu den Institutionen und Akteuren der europäischen Politik erleichtert die tägliche Arbeit ungemein. Ich kann mich spontan zu Fuß auf den Weg machen, um Ansprechpartner persönlich zu treffen. Umgekehrt suchen auch viele Politiker und Akteure das Gespräch in der Bayerischen Vertretung, weil die Wege hierher so kurz sind und sich das Ambiente für Treffen bestens eignet. Netzwerken ist das A und O.“

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus? Welche Dienstleistungen erbringt das von Ihnen geleitete Verbindungsbüro?
„Ich beobachte die politische Debatte in Kommission, Rat und Parlament sowie die europäischen Gesetzgebungsvorgänge und informiere die bayerischen Abgeordneten und insbesondere die Mitglieder des Europaausschusses frühzeitig über die für sie relevanten Vorhaben und Entwicklungen auf europäischer Ebene. Dazu ist es erforderlich, mit zentralen Akteuren regelmäßig im Kontakt zu stehen, um aktuelle Entwicklungen nicht erst aus den Medien oder im Rahmen von Veröffentlichungen der Europäischen Kommission zu erfahren.

Besonders hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang die Vorprüfung von EU-Konsultationen der Europäischen Kommission durch den Europaausschuss. Der Bayerische Landtag macht als einziger Landtag davon Gebrauch, bereits im Vorfeld der Entstehung von Gesetzesvorhaben der EU im Rahmen einer Konsultation auf Bedenken hinzuweisen und prüft alle von der Europäischen Kommission vorgelegten Befragungen zu EU-Vorhaben. Für ausgewählte Konsultationen stelle ich jeweils Hintergrundinformationen in einem „Thema im Fokus“ zusammen, wie zum Beispiel zum Europäischen Sozialfonds „ESF“ oder zur Urbane Agenda der EU. Ich unterstütze darüber hinaus die Gremien und Abgeordneten bei der Organisation von Terminen mit Vertretern der europäischen Institutionen in Brüssel und bei der Organisation von Delegationsreisen. Bei Bedarf bearbeite ich direkte Anfragen der Abgeordneten zu speziellen Themen. Unterstützung erhalte ich von meinem Assistenten Stefan Wiendl. Herr Wiendl übernimmt insbesondere organisatorische und koordinierende Aufgaben und arbeitet bei der Erstellung des wöchentlichen Newsletters für die Abgeordneten mit.“

Wie stark nutzen die Abgeordneten bzw. die Gremien die Kontakt- und Informationsstelle?
„Für das kommende Jahr sind bereits mehrere Termine anberaumt. So beabsichtigt unter anderem der Europaausschussvorsitzende Tobias Gotthardt im Frühjahr 2020 eine Ausschusssitzung in Brüssel abzuhalten und mit Vertretern aus Kommission und Parlament ins Gespräch zu kommen. Weitere Delegationen haben sich angekündigt. Auch Erster Landtagsvizepräsident Karl Freller war schon hier vor Ort, als er Anfang Oktober den Bayerischen Landtag bei der Plenarversammlung der CALRE vertrat. In der CALRE sind alle Regionalparlamente der Europäischen Union zusammengeschlossen, die über eine gesetzgebende Befugnis verfügen.“

Die designierte EU-Kommissarin für „Demokratie und Demografie“, Dubravka Šuica, sieht die regionalen Akteure als wichtigste Akteure im Zukunftsprozess der EU. Gibt es dazu schon eine politische Agenda?
„Von besonderer Bedeutung für den Landtag ist aktuell die Debatte zur Zukunft der Europäischen Union. Eine Konferenz, an der auch Vertreter der regionalen Ebene beteiligt sein sollen, soll eingerichtet werden, um den angestoßenen Prozess der „Juncker-Kommission“ aus dem Jahr 2017 fortzuführen und die Empfehlungen aus der sogenannten „Task Force Subsidiarität“ umzusetzen. Der Bayerische Landtag hat ein großes Interesse daran, die in diesem Rahmen geführte Debatte um eine stärkere Anbindung regionaler Parlamente an den Meinungsbildungs- und Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union aktiv mitzugestalten.“

Welche anderen Termine und Themen stehen demnächst auf der Tagesordnung, die auch für den Bayerischen Landtag wichtig und interessant sind?
„Voraussichtlich zum 1. Dezember wird die neue EU-Kommission unter der Leitung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre Arbeit aufnehmen – wir sind auf den Start der Arbeitsprogramme gespannt. Außerdem beobachten wir die weiteren Entwicklungen im Ausschuss der Regionen, AdR. Dieser startet im Februar 2020 in eine neue Mandatsperiode, in der drei Mitglieder des Landtags – Tobias Gotthardt (FREIE WÄHLER), Dr. Franz Rieger (CSU) und Florian Siekmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – mit Funktionen betraut sein werden. Spätestens dann werden uns AdR-Aktivitäten auch hier im Verbindungsbüro des Landtags verstärkt beschäftigen. Außerdem wirft die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ihre Schatten voraus. Diese beginnt am 1. Juli 2020. Spannend wird diese Konstellation auch deshalb, weil es dann zeitgleich zwei deutsche Präsidentschaften gibt – eine im Europäischen Rat und eine in der Europäischen Kommission.“


Frau Kosel, vielen Dank für das Gespräch.



Interview: Katja Helmö

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