Abgeordnete diskutieren mit EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos über aktuellen Stand der europäischen Flüchtlingspolitik
Dienstag, 26. April 2016
Nach dem Besuch von EU-Kommissar Günther H. Oettinger am 8. April hat rund zwei Wochen später erneut ein EU-Kommissar dem Bayerischen Landtag einen Besuch abgestattet: Dimitris Avramopoulos, seit November 2014 verantwortlich für Migration, Inneres und Bürgerschaft in der Kommission von Jean-Claude Juncker, tauschte sich im Europaausschuss mit den Abgeordneten über die aktuelle Flüchtlings- und Asylpolitik aus. 1. Landtagsvizepräsident Reinhold Bocklet hatte den Gast aus Brüssel im Maximilianeum willkommen geheißen. Nach der Ausschusssitzung trug sich Dimitris Avramopoulos in das Ehrenbuch des bayerischen Parlaments ein und nahm an einem Arbeitsessen mit Landtagspräsidentin Barbara Stamm sowie Vertretern aller Fraktionen teil.

Im Europaausschuss unterrichtete Avramopoulos die Abgeordneten über die aktuelle Situation der Flüchtlingskrise. Zunächst würdigte er das Engagement von Bayern und Deutschland, die sich in der Krise herausragend verhalten hätten – auch und gerade dank des Einsatzes ihrer Bürgerinnen und Bürger: „Deutschland hat gezeigt, was Solidarität bedeutet und kann anderen Ländern als Vorbild dienen“, betonte Avramopoulos. Trotz der aktuellen Herausforderungen sei es wichtig, die europäische Idee nicht aus den Augen zu verlieren. Dazu sei es erforderlich, den Zuzug wieder in kontrollierte Bahnen zu lenken und die europäischen Außengrenzen zu sichern.
„Wir müssen Schengen retten“
„Wir müssen Schengen retten“, appellierte Avramopoulos eindringlich und verwies auf die Bedeutung der Freizügigkeit für das europäische Projekt. Nationale Grenzkontrollen und Zäune böten keine langfristige Lösung für die Probleme mit den Migrationsbewegungen. „Unser Ziel ist es, bis Ende 2016 die Grenzkontrollen innerhalb der EU zu beenden – es sei denn, es gibt in Einzelfällen ganz konkrete Anlässe dafür.“ Eine Grundlage, um die Situation zu meistern, sei das Abkommen mit der Türkei: „Ohne die Türkei geht es nicht. Sie ist Transitland und zudem leben dort über drei Millionen Flüchtlinge“, erläuterte Avramopoulos. Dennoch dürfe die EU niemals ihre Grundsätze aufgeben. „Unsere Werte sind nicht verhandelbar“, stellte Avramopoulos klar.
Obwohl es in der Vergangenheit Versäumnisse gegeben habe und die EU anfangs Zeit verloren hätte, würden sich nun die ersten Erfolge der neuen, koordinierten Politik zeigen. „Es wird besser und die Resultate unserer Bemühungen sind messbar“, versicherte Avramopoulos. In den sogenannten Hot Spots würden nun alle Ankommenden erfasst und überprüft. Innereuropäisch und, soweit möglich, auch in Drittstaaten. Neben der Sicherung der Außengrenzen sei es vordringlich, mit sicheren Herkunftsländern über die Rückführungen zu verhandeln. „Diejenigen, die offenkundig keinen Anspruch auf Asyl haben, müssen zügig zurückgeführt werden“, forderte Avramopoulos und verwies auf ein weiteres Problem: „Viele der Flüchtlinge glauben den Schleusern, die ihnen ein völlig falsches Bild der Lage vorgaukeln. Wir müssen den Einfluss dieser Schleuser unterbinden“, sagte Avramopoulos. Denn auch wenn derzeit kaum Flüchtlinge ankämen, sei vorhersehbar, dass es immer noch massenhaft Migrationsbewegungen gebe, die auf Europa zusteuern. Es gebe immer noch Flüchtlinge, die Routen würden sich nur ändern. „Alleine in den letzten vier Wochen sind 11.000 Menschen auf dem Seeweg nach Italien gekommen“, so Avramopoulos. Abgesehen von notwendigen aktuellen Maßnahmen sei aber auch ein Nachdenken über den mittel- und langfristigen Umgang mit den Menschen, die nach Europa kämen, dringend notwendig. „Integration ist eine wichtige Aufgabe für uns alle. Deutschland ist auch hier vorbildlich engagiert und investiert sehr viel darin“, so Avramopoulos. Allerdings habe Deutschland auch schon lange Erfahrung mit Einwanderung und Integration. Vielen anderen EU-Ländern fehle diese Erfahrung, aus ihnen seien im Gegenteil Menschen eher ausgewandert. Insgesamt habe die EU rund zehn Milliarden Euro in europaweite Maßnahmen investiert, alleine Deutschland habe 400 Millionen Euro gestellt. Und obwohl Integration selbstverständlich eine nationale Angelegenheit sei, könne man darüber nachdenken, ob eine Harmonisierung der Regelungen für die EU nicht sinnvoll wäre.
Fragmentierung der Interessen in Sicherheitsfragen
Ein wichtiges Thema war auch die Sicherheit. Avramopoulos warnte davor, die Flüchtlingsfrage mit den aktuellen Terrorattacken zu verknüpfen. Es gebe keine belastbaren Hinweise, dass sich viele gewaltbereite Extremisten unter den Flüchtlingen befänden, stellte Avramopoulos fest und erinnerte daran, dass die Attentäter von Brüssel und Paris keine Einwanderer waren, sondern bereits in dritter oder vierter Generation dort gelebt hatten. „Das beweist nur, wie wichtig eine gelungene Integration ist.“ Ein Problem sei die Fragmentierung der Interessen der einzelnen Staaten in Sicherheitsfragen. „Wir brauchen gegenseitige Information und vertrauensvolle Zusammenarbeit, sonst machen wir uns verwundbar“, mahnte Avramopoulos. Die Terrorgefahr sei universell und begrenze sich nicht auf einzelne Staaten. „Das hat eine Dimension jenseits nationaler Bedrohung“, so Avramopoulos und plädierte dafür, das neue Anti-Terror-Zentrum bei Europol zu stärken.
Nicht nur die Verfolgung extremistischer Straftaten sei wichtig, auch die Prävention müsse verstärkt werden. Deswegen sei die Verschärfung zum Erwerb von Feuerwaffen innerhalb der EU sinnvoll: „Nationale Alleingänge lösen kein einziges Problem. Sie setzen die Errungenschaften der EU, von denen wir alle seit Jahrzehnten profitieren, nur aufs Spiel“, sagte Avramopoulos. Es sei elementar, Italien und Griechenland als Hauptbelastete der Flüchtlingskrise zu unterstützen. „Solidarität bedeutet nicht, immer nur das Gute zu teilen, sondern auch die Verantwortung. Sollen wir den europäischen Traum wegen der Krise aufgeben? Ich glaube nicht. Ich denke, die aktuelle Situation wird ein Katalysator für ein stärkeres Europa sein“, zeigte sich Avramopoulos überzeugt. Allerdings seien alle Seiten gefordert. Griechenland etwa habe von der EU 500 Millionen Euro für Sofortmaßnahmen der Flüchtlingsversorgung zugesagt bekommen – erst 90 Millionen davon seien abgerufen worden. Und über 1000 EU-Experten wären vor Ort in Griechenland, um zu helfen, während Griechenland nur 120 Beamte für die Registrierung von derzeit 50.000 Flüchtlingen abstelle. „Die EU macht macht Druck. Aber ein Problemen wiederholt sich: Wir dürfen nicht in überwunden geglaubte Muster zurückfallen. Nationale Egoismen haben diesen Kontinent schon einmal in Katastrophen getrieben. Wir sollten unser historisches Gedächtnis auffrischen und uns darauf besinnen, was wir an einem vereinten Europa haben“, schloss Avramopoulos.
Beim anschließenden Arbeitsessen mit dem Kommissar und Vertretern aller Fraktionen betonte der 1. Landtagsvizepräsident Reinhold Bocklet: „Bei allen Diskussionen um geeignete Lösungsansätze und -vorschläge in den unterschiedlichen Ländern ist die Problematik nur im europäischen Kontext zu behandeln. Europa muss in dieser Frage an einem Strang ziehen.“ Avramopoulos betonte in seiner Erwiderung, die Krise als Motor dahingehend zu nutzen, dass Europa wieder enger zusammenrücke. Er sehe die ganze Situation auch als Test für die Grundwerte der Europäischen Union. Weitere Kerninhalte des Gesprächs waren die Sicherung der Schengen-Außengrenzen und die aktuellen Entwicklungen in Libyen, die zu einer weiteren großen Flüchtlingsbewegung führen könnten. /zg /ap /kh