Landtagsdelegation besucht die Ukraine
2. November 2015
- Von Dr. Anton Preis -
MÜNCHEN. Eine Delegation des Bayerischen Landtags mit Landtagspräsidentin Barbara Stamm an der Spitze hat vom 1. bis zum 5. November die Ukraine besucht. Die Delegation machte sich vor Ort ein Bild von der Lage in der Ukraine und vom dortigen Konflikt. Ausgangspunkt waren politische Gespräche mit dem Ukrainischen Botschafter im Landtag im Frühjahr und ersten Hilfsaktionen durch das Bayerische Rote Kreuz für Waisenkinder aus der Ukraine.
Weitere Teilnehmer der Delegation waren Vizepräsident Peter Meyer, die Präsidiumsmitglieder Hans Herold, Agrarausschussvorsitzende Angelika Schorer, Reserl Sem und Petitionsausschussvorsitzende Sylvia Stierstorfer. Darüber hinaus reisen die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Grüne, Margarete Bause, die Ausschussvorsitzenden Dr. Franz Rieger (Europa) und Peter Winter (Haushalt) sowie Haushaltsausschussmitglied Harald Güller und die stellvertretende Vorsitzende der Kinderkommission, Doris Rauscher, mit.
Teil der Delegation waren auch Vertreter von Wohlfahrtsverbänden: Thomas Bihler, Vorsitzender des Flughafenvereins München, Prof. Dr. Thomas Beyer, Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt Bayern, Brigitte Meyer, Vizepräsidentin des Bayerischen Roten Kreuzes und Prälat Bernhard Piendl, Direktor des Landes-Caritasverbands Bayern.
Ukraine ist immer noch im Schockzustand
Beim ersten Briefing in der Botschaft durch Botschafter Dr. Christof Weil waren die Lokalwahlen am 25. Oktober Thema, die quasi als landesweiter Stimmungstest zum Beispiel über die Regierungspolitik, über das Minsker Abkommen sowie über die Wirtschaftsreformpolitik zu werten sind. Mit Erleichterung werden die Tendenzen für eine Mehrheit der Regierungsparteien gesehen, weil auf dem Weg zur Umsetzung des Minsker Abkommens vorgezogene Parlamentswahlen problematisch wären, so der Tenor im Gespräch. Eine große parlamentarische Herausforderung ist die aktuell vorangetriebene Verfassungsreform, die eine Justizreform, eine Dezentralisierung und eine Stärkung der Bürgerrechte vorsieht. Insgesamt herrscht in der Ukraine nach wie vor ein gewisser Schockzustand, da sich niemand hätte vorstellen können, dass Russland so rigoros gegen den Nachbarn vorgeht. Entsprechend deutlich ist die Stimmung im Land nun zu Gunsten der EU und einer mittelfristigen Mitgliedschaft. Zwar bewegt sich das Pro-Kopf-Einkommen im Bereich von 150 Euro pro Monat, jedoch sind die Potenziale der Ukraine dank der guten Bildung der Bevölkerung und der Agrarressourcen mit besten Schwarzerdeböden sehr hoch. Wichtige Voraussetzungen auf dem Weg zur EU sind eine nachhaltige Bekämpfung der Korruption und Ruhe vor dem russischen Nachbarn.
Großes Interesse an Zusammenarbeit im Bereich Landwirtschaft
Es folgte ein Besuch auf dem Maidan, wo die Delegation an der Gedenkstätte für die Opfer der Bürgerrevolution Blumen niederlegte und ein kurzes Gebet sprach. An der Taras-Shevtschenko Universität in Kiew hatte die Delegation Gelegenheit, mit dem Bildungssystem der Ukraine in Berührung zu kommen und mit Studenten und Professoren zu diskutieren. Besonders großes Interesse zeigten die Studierenden an einer Stärkung von Austauschabkommen und erleichterten Möglichkeiten, Praktika in Deutschland zu machen. Die Abgeordneten sicherten in dem Zusammenhang zu, in Zusammenarbeit mit dem Bildungs- und dem Wissenschaftsausschuss hier Möglichkeiten auszuloten und regten weitere Dialoge auf Arbeitsebene an. „Wir haben auf dem Maidan für Werte gekämpft, wissen aber nicht, wann diese Werte erreicht werden“, berichtete eine Studentin im Gespräch mit der Delegation und wies dabei auf die nach wie vor unsicheren Zeiten in der Ukraine hin.
Nach dem Universitätsbesuch standen verschiedene Spitzengespräche mit Ministern auf dem Programm. Im Landwirtschaftsministerium traf die Delegation den Ressortchef Oleksi Pawlenko. Um die gewaltigen landwirtschaftlichen Potenziale zu heben, zeigte sich der Minister an einem Bildungsaustausch interessiert. Auch die erfolgreichen Genossenschaften in Bayern sah Pawlenko als mögliches Vorbild für sein Land, um die immensen Flächen organisatorisch gut bewirtschaften zu können, ohne dass das Land in Händen von Agrarholdings landet. Agrarausschussvorsitzende Angelika Schorer wies auf die vielen erfolgreichen Mittelständler im Agrarbereich in Bayern hin und die Möglichkeiten, hier in Kontakt zu treten. Auch das Potenzial und die Nachfrage für Öko-Landbau interessierten die Abgeordneten. Nach Angaben des Landwirtschaftsministers produziert die Ukraine gentechnikfrei, um so attraktiver für die asiatischen Märkte zu sein. Zudem äußerte der Minister ein großes Interesse an der Wiederauflebung der bayerisch-ukrainischen Regierungskommission, die seit 1990 eine Vielzahl gemeinsamer Projekte, unter anderem auch im Bereich der Landwirtschaft, auf den Weg gebracht hat.
1, 5 Millionen Kriegsflüchtlinge
Im Gespräch mit Pawlo Rosenko, Minister für Sozialpolitik, war insbesondere die Versorgung der über 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge aus der Donbass-Region Thema. Rosenko dankte der Delegation für die vielen Projekte, die mit bayerischer und deutscher Hilfe in der Ukraine verwirklicht werden können. Herausforderungen im Flüchtlingsbereich in der Ukraine liegen neben der Versorgung der vielen Menschen in deren Integration ins öffentliche Leben. Großer Bedarf herrsche an speziell ausgebildeten Psychologen, die die kriegstraumatisierten Menschen betreuen helfen. Der nach wie vor andauernde Konflikt verschlinge zudem immense Mittel und Potenzial für soziale Projekte.
Im Kinderkrankenhaus Nr. 1 in Kiew konnte sich die Delegation ein Bild von der gesundheitlichen Versorgung der Ukraine machen und von den Defiziten, die behoben werden müssen. Zwar ist die Krankenversorgung steuerfinanziert und kostenlos, jedoch auf sehr niedrigem Niveau. So stehen durchschnittlich in einem Krankenhausbudget 80 % Personalkosten und 10 % Betriebskosten ganzen 5 % für Medikation und je 2,5 % für Investitionen und Verpflegung gegenüber. Die Delegation hatte für das Kinderkrankenhaus mehrere Spenden parat. Der Flughafenverein München unter dem Vorsitz von Thomas Bihler spendete einen Defibrillator und einen Laptop im Gesamtwert von rund 7.000 Euro. Zudem entrichtete die Landtagsdelegation eine Geldspende.
Gesundheitsversorgung im Land ist mangelhaft
Die im Krankenhaus gewonnenen Eindrücke konnten gleich beim Gespräch mit dem Gesundheitsminister Oleksandr Kwitaschwili eingebracht werden. Dieser beklagte, dass es seit der Unabhängigkeit der Ukraine nahezu keine Reformen im Gesundheitswesen gegeben habe und diese in Zeiten wirtschaftlicher Not schwer durchzusetzen seien. Nach wie vor herrsche die alte Infrastruktur aus der Sowjetzeit vor. Große Probleme habe man mit Impfungen. Nur noch 30 Prozent der jungen Menschen seien beispielsweise gegen Polio geimpft. Die Landtagspräsidentin und die Delegation sahen in verstärkter Zusammenarbeit von bedeutenden Kliniken in der Ukraine und Bayern einen wichtigen Ansatzpunkt für eine Verbesserung der Situation vor Ort und sicherten zu, sich für ein Wiederaufleben der Partnerschaften einzusetzen. Eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung sei entscheidend für die Zukunftsfähigkeit des Landes, so Barbara Stamm.
In der Werchowna Rada, dem Parlament der Ukraine, stand ein Gespräch mit dem Parlamentspräsidenten Volodomyr Hrojsman auf dem Programm. Der Präsident benannte die aktuellen Herausforderungen für Ukraine: Die anhaltende Aggression Russlands, die Bekämpfung der Korruption und Macht der Oligarchen sowie die institutionelle Schwäche staatlicher Einrichtungen. Jedoch verstehe es das Parlament selbst unter diesen schwierigen Bedingungen, Entscheidungen zu treffen. Dezentralisierung sei hierfür essenziell: Die Bevölkerung vor Ort müsse stärker an politischem Prozess teilhaben, bisher fehle es den lokalen Selbstverwaltungsorganen aber an Kompetenzen. Die Reform dazu sei nun eingeleitet, unter anderem auch mit Verankerung des Konnexitätsprinzips. Landtagspräsidentin Barbara Stamm rief Bedeutung von Subsidiarität in Erinnerung: Nicht alles könne und müsse der Staat machen, in vielen Fällen seien Wohlfahrtsverbände sehr engagiert. So werde der Flüchtlingsansturm in Deutschland auch dank des Einsatzes Freiwilliger bewältigt. Im Gespräch mit Vertretern mehrerer Fraktionen des Parlaments war der Tenor, dass die Schaffung einer qualitativ hochwertigen Staatsverwaltung und die Stärkung des Respekts der Bürger für den Staat zentrale Herausforderungen seien. Im Anschluss an die Gespräche nahm die Delegation auf der Ehrentribüne an der Sitzung der Werchowna Rada teil und wurde vom Parlamentspräsidenten und den Abgeordneten sehr herzlich begrüßt.
"Europa muss sich um die Ukraine kümmern"
Der zweite Teil der Reise führte nach Charkiw in der Ostukraine, rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Nach einem ersten Briefing durch die Honorarkonsulin der Bundesrepublik Deutschland, Tetyana Gavrysh, war das Nürnberger Haus die erste Station für die Delegation. Zwischen Charkiw und Nürnberg existiert eine jahrelange fruchtbare Partnerschaft, die sich in den Projekten des Nürnberger Hauses seit dessen Eröffnung 1995 widerspiegeln, die von verschiedenen Mittelgebern, unter anderem dem Auswärtigen Amt, finanziert werden. Der Leiter des Nürnberger Hauses, Anatoliy Mozgovyy, und Olga Bolibok, Leiterin des dortigen Deutschen Zentrums und DAAD-Lektorin in Charkiw, stellten einige der Projekte vor. Die Vermittlung der deutschen Sprache und kulturelle Veranstaltungen stehen dabei im Mittelpunkt, aber auch Kurse für Journalisten, die als Korrespondenten im Konfliktgebiet unterwegs sind.
Im Gespräch mit dem Leiter der Gebietsverwaltung, Gouverneur Dr. Ihor Rajnin, erklärte Barbara Stamm, die Delegation sei bewusst auch nach Charkiw gekommen, um ein Zeichen der Solidarität mit der Region und der ganzen Ukraine zu setzen. Die Herausforderungen, so der Gouverneur, durch die Binnenflüchtlinge seien immens, allein in Charkiw befänden sich rund 300.000. Die diplomatischen Beziehungen zu Russland seien nicht abgebrochen worden und Besuche der Bürger seien möglich, jedoch seien einige Import- und Exportverbote erlassen worden und die Beziehungen zu den Nachbarstädten jenseits der Grenze schwierig.
Auf beim Treffen mit dem Vorsitzenden der Gebietsversammlung, Dr. Sergej Tschernow, und den Vorsitzenden wichtiger Ausschüsse sicherte Barbara Stamm die Solidarität Bayerns mit der Ukraine zu und betonte, dass das Land von der EU nicht allein gelassen werden dürfe.
Ein weiterer wichtiger Termin war ein Besuch der Siedlung für Binnenflüchtlinge am Stadtrand von Charkiw. In dem von der Bundesrepublik finanzierten Containerdorf leben rund 600 Flüchtlinge, darunter viele Familien mit Kindern. Eine spontane Rollstuhlspende durch den Flughafenverein München konnte dort noch am Morgen des Abreisetages übergeben werden.
„Europa muss sich weiter um dieses Land kümmern“, so das Fazit der Landtagspräsidentin und aller Delegationsmitglieder nach der Reise. Bayern werde seinen Teil dazu beitragen.