Gedenkveranstaltung anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung des KZ-Außenlagerkomplexes Landsberg/ Kaufering am 02.05.2025

 

Es gilt das gesprochene Wort.

Anrede

 

„Der Nacht gehören das kämpfende Wimmern, 
der Abschiedsschrei, 
das schmerzvoll mit Daheim verbindende Delirium“ – 
das schrieb der jüdische Journalist und Schriftsteller 
József Debreczeni in seinem Buch „Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz“.

Es erschien bereits 1950 in seiner Heimat Ungarn.

Erst jetzt – 80 Jahre nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager – erscheint es in deutscher Sprache.

Und gerade jetzt, da Umfragen zufolge Bereitschaft und Wille weiter sinken, sich mit

  • Nationalsozialismus,
  • Holocaust
  • und deutscher Verantwortung

auseinanderzusetzen,

gerade jetzt rufe ich dazu auf, ja will ich in die Pflicht nehmen, Bücher wie dieses zu lesen. 

Wir brauchen die Erinnerung – dringend! 

Sind sie eine Zumutung? 

  • Die krassen, gnadenlos präzisen Schilderungen der Brutalität,
  • der unfassbar katastrophalen Zustände fernab jeder Humanität,
  • die schonungslose Wiedergabe der alltäglichen Abgründe in den Lagern?

Eine Zumutung? 
Ja, die 250 Seiten kalter Grausamkeiten sind kaum auszuhalten. 

Aber wir müssen sie nur lesen. 

József Debreczeni musste sie erleben.

Und ich denke, wir sollten uns dieser Zumutung stellen, 
uns sein Schicksal zu vergegenwärtigen.
Es ist das Mindeste, was wir den wahren Opfern wie ihm, 
wie auch Abba Naor, Erich Finsches heute noch schulden. 

Wir brauchen diese Erinnerung – unbedingt! 

Ja, es ist kaum zu ertragen. 

Selbst die Befreiung. Wenn er schreibt: 
„Wie versteinert betrachten die sowjetischen Soldaten das Geisterhaus.“ 

Und über einen Offizier, der die Baracke betritt: 
Er „watet durch die Jauche, tritt an die Betten heran. 
Er zittert am ganzen Leib.“ 

Ebenso wird es jeder und jedem gehen, der diese Zeilen liest.

Aber wir brauchen diese Erinnerung! 

 

Meine Damen und Herren, 

80 Jahre sind eine lange Zeit. 

Wir wissen, dass es allein fast drei Jahrzehnte brauchte, ehe eine Mehrheit in Deutschland überhaupt bereit und mehr oder weniger willens war, 
sich der Vergangenheit erstmals wirklich zu stellen. 

Bis heute – aller Aufklärung zum Trotz – glauben in Umfragen mehr als die Hälfte der Befragten, 
dass allein eine kleine Clique von Tätern die NS-Verbrechen begangen hätte.

Und es ist erschreckend, ja frustrierend, dass der Ruf nach einem „Schlussstrich“ immer lauter wird – 

  • Stichwort „Schuld-Kult“,
  • Stichwort „Vogelschiss“

Das Erinnern an die NS-Zeit ist umkämpft wie lange nicht. 

Aber ich komme immer wieder an Orte wie diesen.

Damit Erinnerung nicht verblasst. 

Denn wir brauchen sie, immer wieder! 

 

Dass sich aber immer mehr davon lossagen wollen, 
das fällt nicht zufällig zusammen mit massiven Attacken 
auf die freiheitliche Demokratie und ihre Werte – national wie international.

Unser Selbstverständnis und unsere vermeintlichen Gewissheiten stehen unter Druck.

80 Jahre nach dem Ende Zweiten Weltkriegs in Europa 
und der Befreiung der Konzentrationslager müssen wir uns als Gesellschaft 

  • immer wieder
  • und ein Stück weit auf‘s Neue 

den Zusammenhang zwischen aktivem Erinnern und einem Gemeinwesen vergegenwärtigen, in dem die Würde des einzelnen Menschen im Zentrum steht. 

Es steht mehr auf dem Spiel als unsere Erinnerungskultur. Es geht um unsere Zukunft.

Dafür brauchen wir die Erinnerung! 

 

Zu Beginn dieses Gedenkjahres habe ich in Dachau die Frage formuliert, die ich hier wiederholen möchte: 

Haben wir uns als Gesellschaft wirklich befreit?

  • Befreit von den Denkmustern, 
    die Deportationen und Vernichtung zugrunde lagen?
  • Von den ideologischen Instrumenten,  
    die gezielt eingesetzt werden, 
    um Massen zu erreichen und zu erregen?
  • Von den Gefahren für die Freiheit?

Ich denke nicht. 

Und ich bleibe dabei: 

Einen echten deutschen Patriotismus kann es nur geben im vollen Bewusstsein unserer Geschichte.

Wir brauchen diese Erinnerung! 

 

Die Erinnerung ist der nicht endende Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Ohne sie sind wir nicht nur blind für die Geschichte;

wir sind blind für die Gegenwart.

Denn wir können doch erkennen, 
wie gegenwärtig die Frevel und Verfehlungen sind, 
die eine Schneise der Verwüstung durch die Geschichte der Menschheit geschlagen haben.

  • Extremismus rechts- und links,
  • Fundamentalismus, Terrorismus,
  • Faschismus, Nationalsozialismus,
  • Allmachtsphantasien, 
    Bis hin zu Kriegslust und imperialistischem Wahn 

– all das ist überaus präsent! 

 

Es bedroht 

  • unsere Demokratie,
  • unsere Freiheit,
  • unsere Werte.

Es betrifft uns alle – mit tödlichen Folgen. 

Wir brauchen die Erinnerung! 

 

  • Wir brauchen sie, um die Muster zu erkennen.
    Die Instrumente, die zunächst einzelne Minderheiten und schlussendlich alle in die Katastrophe führen.
  • Wir brauchen sie, um den schweren Fehlern der Vergangenheit heute vorzubeugen.
    Um widerstandsfähiger zu werden, wehrhafter.
  • Wir brauchen sie, 
    um mit dem Blick zurück – nach vorne zu denken. 
    Um unsere Demokratie zu stärken.

Wir brauchen die Erinnerung! 

 

Meine Damen und Herren, 

wenn wir noch vor wenigen Jahren zu Gedenkveranstaltungen wie dieser zusammenkamen, 
taten wir das zwar im Vorsatz, 
Gedenken nicht zum leeren Ritual werden zu lassen. 

Und doch waren wir auf gewisse Weise 
erleichtert, getröstet, von dem Glauben, 
Völkermord und Kriege auf unserem Kontinent 
im 20. Jahrhundert zurückgelassen zu haben. 

Das war: Geschichte. 

Und jetzt ist es dieser Glaube: Geschichte. 

  • In Europa tobt ein Krieg.
  • Weltweit sind Autokratien im Aufstieg begriffen. 
  • Rechtsextreme Kräfte erstarken –

    in Deutschland, in Europa, in den USA, global.

  • Immer mehr Menschen pflegen einen scheinbar spielerischen Umgang mit Hass und Hetze,
  • denken in Freund-Feind-Kategorien.
  • Der parlamentarischen Demokratie und den unabhängigen Medien schlägt Verachtung entgegen.
  • Verschwörungsmythen und Lügen werden leidenschaftlich verbreitet – 
    bis hin zu dem wilden Irrglauben: 

    Meinungsfreiheit sei Lügenfreiheit, 

  • Mehrheiten werden gegen Minderheiten ausgespielt
  • und am Ende, da steht die Idee, dass es Menschen gibt, die man verachten kann, die weniger wert sind,

 

Es ist für jeden zu sehen, der es sehen will:

Nie war Geschichte so nah. 

Nie war es deutlich: 
Wir brauchen die Erinnerung! 

 

Meine Damen und Herren, 

allein an diesem Ort waren über 30.000 Menschen inhaftiert.

  • Schwerstarbeit,
  • Folter, Prügel, Pein,
  • Kälte, Krankheit, Erschöpfung,
  • schmerzender Hunger und Durst,
  • ewiges Elend,
  • ewiges Sterben.

Egal, wie viele Bücher wir lesen, wie viele Filme wir sehen – 
niemals, lieber Abba Naor, werden wir genau begreifen können, was Menschen wie Ihnen hier angetan wurde. 

Wir brauchen die Erinnerung! 

 

Mehr als 6.000 Menschen sind hier ermordet worden.

Einige von ihnen sind noch immer hier –

in den Wänden, die uns umgeben. 

Sie wurden lebendig begraben im flüssigen Beton dieser Bunkerwände. Vernichtung durch Arbeit.

 

Der Holocaust, meine Damen und Herren, 
das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte, geschah nicht irgendwo weit weg, im Osten. 

Er geschah auch hier, vor der Haustür, 
in unserer Bilderbuchlandschaft, im Heimatidyll. 

In einem weiten Netz aus über 140 KZ-Außenkommandos und KZ-Außenlagern.

Damals wollten es viele nicht wissen. 

Heute wissen wir es. 

Und dürfen es nicht vergessen.

Wir brauchen diese Erinnerung!

 

Es gibt Heimat nicht zur Hälfte. 

Es gibt sie nur als Ganzes. 

Und diesem Ganzen sind wir verpflichtet. 

Echter Patriotismus braucht die Erinnerung! 

 

Meine Damen und Herren, 

auch an diesem schrecklichen Ort sage ich es:

Ich bin eine Patriotin. 

Ich bin stolz auf das, was wir in den letzten 80 Jahren in unserem Land erreicht haben. 

 

Aber es verliert an Wert, wenn wir nicht derer gedenken, denen an Orten wie diesem alles genommen wurde. 

 

Und es verliert an Wert, wenn wir uns nicht wachsam und wehrhaft unseren Feinden entgegenstellen. 

  • Den Feinden der Freiheit und Demokratie, 
    die uns in einem hybriden Krieg angreifen.
  • Den Feinden, 
    die Fremdenfeindlichkeit und Rassismus propagieren,
  • Antiziganismus,
  • Frauenfeindlichkeit,
  • Homophobie
  • oder Aggression gegen Menschen mit Behinderung.

Besonders bedrückend ist das Ausmaß an Antisemitismus, das wir erleben.

Schon vor dem 7. Oktober 2023 waren rechter, linker und muslimischer Antisemitismus weit verbreitet. 

Aber – wie paradox ?! – 
seit dem größten antijüdischen Pogrom nach der Shoa durch palästinensische Terroristen in Israel hat sich die Lage für Jüdinnen und Juden extrem verschärft. 

Auf den Straßen, Sportplätzen – im Alltag.

Und ausgerechnet in Kunst, Kultur und an den Hochschulen, wo man besonders achtsam mit Minderheiten umgehen will, haben sich viele verschlossen gegenüber der jüdischen Perspektive.

Ursache und Wirkung, Täter und Opfer werden verdreht.

Jüdinnen und Juden fühlen sich – in unserem Land – wieder allein und unverstanden und haben Angst. 

Meine Damen und Herren, 
dem müssen wir entgegentreten. 

Oh ja, wir brauchen die Erinnerung – unbedingt! 

 

Es macht mich beklommen, wie viele Menschen sich vor der Einsicht verschließen, wie wertvoll es ist, 

  • für ihr Leben,
  • für unser Land, 

sich zu erinnern. 

Es erschüttert mich, 
dass manche Gedenkstätten und Geschichtslehrer davon berichten, nicht mehr nur auf Unwissen und Desinteresse zu stoßen – sondern auf blanke Ablehnung.

Auf Hitlergruß und Schmierereien.

Auf „White Power“ und „Globale Intifada“.

 

  • Als Landtagspräsidentin,
  • als Repräsentantin der Volksvertretung,
  • als jemand, der aus dem Herz der Demokratie in Bayern spricht,

kann ich nur sagen: 
Ich stemme mich mit aller Kraft gegen diese vorsätzliche Verantwortungslosigkeit.

Ich stelle mich in den Dienst der Erinnerung!

Und gerade an diesem militärischen Ort 
will ich eben jenen danken, 
die in herausragender Weise Verantwortung übernehmen: unseren Soldatinnen und Soldaten. 

 

Menschen, die bereit sind, 
in letzter Konsequenz ihr Leben zu geben 
– für die Verteidigung von Freiheit und Demokratie. 

Wir sehen es so deutlich wie lange nicht:

Freiheit braucht Verteidigung – auch militärische! 

Und Sie, Sie sind die größten Patrioten, die wir haben.

Ich danke Ihnen von Herzen für Ihren Einsatz! 

 

Meine Damen und Herren, 

nehmen wir uns daran ein Beispiel: 

  • Wehren wir uns gegen die Angreifer von außen und innen.
  • Wehren wir uns gegen jede Form von Menschenverachtung und Extremismus.
  • Und wehren wir uns gegen ideologisches Denken,  
    in dem alle morgen die „anderen“ sein können. 

 

Erinnern wir uns an das, was Menschen wie 

  • József Debreczeni,
  • Abba Naor,
  • Solly Ganor und
  • viele andere Überlebende der Shoa 

uns aufgeschrieben haben – als ewige Mahnung. 

 

Machen wir uns bewusst, wie es anfängt 
– und wie es endet.

Wir brauchen diese Erinnerung! 

Vielen Dank!

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