Informationsreise des Petitionsausschusses nach Mazedonien und in den Kosovo

Freitag, 30. Juni 2017

- Von Zoran Gojic -

SKOPJE / PRISTINA.               Mit der großen Migrationsbewegung im Herbst 2015 geriet eine fast vergessene Region schlagartig wieder in den Fokus der EU: der Balkan. Von Griechenland kommend, suchten hunderttausende Flüchtlinge über die ehemaligen jugoslawischen Republiken Mazedonien, Serbien und Kroatien den Weg in die EU – und insbesondere Deutschland. Auch wenn sich die Situation mittlerweile stabilisiert hat, ist der Eingabenausschuss des Bayerischen Landtags immer wieder mit Geflüchteten befasst, die seinerzeit über die Grenze bei Idomeni / Gevgelija gekommen waren und deren genaue Herkunft nicht selten schwierig zu klären ist, weil Griechenland und Mazedonien oft vor Ort Ersatzdokumente ausstellten. Zudem stehen viele Menschen aus dem Westbalkan, die nach einer Ablehnung des Asylgesuchs zurückgeführt werden sollen in ihrer Heimat vor gewaltigen Problemen bei der Reintegration. Deswegen reisten die Mitglieder des Ausschusses für Eingaben und Beschwerden in der letzten Juniwoche 2017 auf den Westbalkan, um sich selbst in Mazedonien und dem Kosovo über die Migrationssituation zu informieren.



Ausgangspunkt der Reise ist Mazedonien, einem Land mit nicht einmal zwei Millionen Einwohnern, das seit Jahren unter politischer Instabilität leidet und wirtschaftlich stagniert. Die zeitweise angespannten Beziehungen zwischen den rund 65 Prozent slawischen Mazedoniern orthodoxen Glaubens und den etwa 25 Prozent  muslimischen Albanern haben sich aktuell beruhigt und die schwelende Regierungskrise ist ebenfalls überwunden, seit der frühere Ministerpräsident Nikola Gruevski  nach längerem Zögern seine Niederlage bei den letzten Parlamentswahlen eingestand und der Sozialdemokrat Zoran Zaev am 31. Mai zum neuen Regierungschef gewählt wurde. Damit gibt es wieder einen Ansprechpartner für die internationale Staatengemeinschaft – das Interesse an einer Kooperation mit dem EU-Kandidaten Mazedonien ist aufgrund seiner geographischen Lage auf der sogenannten Balkanroute sehr hoch.
Zunächst machen sich die Ausschussmitglieder ein Bild von der Situation im Bereich der mazedonisch-griechischen Grenze und nutzen die Gelegenheit, Gespräche zur Migrationspolitik mit mazedonischen Regierungsvertretern zu führen. Am bekannten „Grenzstein 59“, der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien ist nach den teilweise chaotischen Verhältnissen im Sommer und Herbst 2015, als rund 800 000 Menschen nach Europa drängten, mittlerweile Ruhe eingekehrt, wie Zoran Lazorovski, Hauptkoordinator des Crisis Management Center der Grenzgemeinde Gevgelija erklärt.
„Das hier war nie ein offizieller Grenzübergang, sondern einfach das Gleis der Zugverbindung Athen - München. Deswegen herrschten damals diese unübersichtlichen Verhältnisse. Wir waren nicht dafür ausgestattet hier Menschen zu registrieren oder unterzubringen“. Das hat sich – auch mit Hilfe internationaler Polizeikräfte – geändert. Die Grenze ist seit dem 6. März 2016 dicht. „Das war eine Entscheidung der EU, nicht unsere“ erinnert Lazorovski, angesprochen auf die Bilder verzweifelter Flüchtlinge, die damals versuchten, die neu errichteten Zäune zu überwinden. In der Zwischenzweit ist gleich in der Nähe der Grenze ein vorübergehendes Transitzentrum für Flüchtlingen eingerichtet worden. „Wir nennen es Transitzentrum, weil wir davon ausgehen, dass die Menschen weiter nach Norden wollen“, erklärt Lazorovski.

Niemand beantragt in Mazedonien Asyl

Theoretisch, so fügt er an, könne ein Flüchtling auch in Mazedonien einen Asylantrag stellen, aber das komme kaum je vor. Nun habe man Übernachtungsmöglichkeiten für 160 Menschen. An 16 Schaltern könnten die Menschen auch registriert und deren biometrischen Daten erfasst werden. Bis zu 1500 durchreisende Menschen täglich könne man erfassen und versorgen. Momentan leben rund 30 Menschen in dem Zentrum, meist Menschen aus Syrien oder dem Irak, die auf einen Bescheid wegen Familienzusammenführung warten. Neun Kinder werden in dieser Zeit auf Mazedonisch, Arabisch, Deutsch und Englisch unterrichtet. Die Kleinkinder beherrschen mittlerweile fast alle Mazedonisch und oft auch einige Brocken Englisch. Wie kompliziert die Situation für die Menschen zwischen den Grenzen ist, erleben die Ausschussmitglieder selbst am Beispiel einer jungen Jesidin aus Syrien. Wegen missverständlich ausgestellter Geburtsurkunden für ihre Töchter wartet sie seit über 18 Monate in dem Transitzentrum auf die Zusammenführung mit ihrem Mann in Deutschland. Ausschussvorsitzende Sylvia Stierstorfer sichert im Namen aller Abgeordneten eine zeitnahe Klärung des Falles durch die ständige deutsche Botschaft zu, die sich zuversichtlich äußert, die Lage klären zu können.

Deutschland ist der wichtigste Handelspartner

Danach geht es weiter zu einer Fertigungsstätte der niederbayerischen Firma Dräxlmaier in der Gemeinde Kavadarci, die mit 5000 Angestellten der größte Arbeitgeber der Region ist. Von Interesse ist das für den Ausschuss, weil Menschen, die von Deutschland aus nach Mazedonien zurückgeführt werden, auch eine Perspektive, also Arbeit brauchen. Dräxlmaier bietet nicht nur Arbeitsplätze mit Gehältern, die über dem mazedonischen Durchschnittslohn von 350 Euro liegen, sondern bildet auch aus und hat in Zusammenarbeit mit den Behörden ein duales Ausbildungssystem nach deutschem Vorbild etabliert. Deutsche Firmen sind ohnehin wichtig für Mazedonien, insgesamt sind 20 000 Menschen in dem Balkanland bei deutschen Arbeitgebern beschäftigt.
Deutschland ist auch wichtigster Handelspartner des Landes – gut die Hälfte aller Ausfuhren geht dorthin, das Handelsvolumen beträgt rund drei Milliarden Euro. Nur um die Dimension zu verdeutlichen: das jährliche Haushaltsbudget Mazedoniens beträgt ungefähr drei Milliarden Euro. Dennoch ist die mazedonische Wirtschaft schwach, mehr als ein Viertel der Menschen haben keine Arbeit, jeder fünfte Einwohner Mazedoniens lebt unter der Armutsgrenze. Viele wollen deswegen ihr Glück in Deutschland versuchen, meist mit einem Antrag auf Asyl. Seit dem 1. Januar 2016 hat die Bundesregierung deshalb die Erteilung von Arbeitsvisa in Mazedonien beschlossen, um denjenigen, die unbedingt hierher wollen und einen Arbeitgeber in Deutschland vorweisen können eine legale Möglichkeit der Einreise zu ermöglichen. Über 5000 Visa wurden 2016 erteilt und möglicherweise werden auf diese Weise viele aussichtslose Asylverfahren unterbunden.
Der ärmsten Bevölkerungsgruppe in Mazedonien hilft das Visa mangels Qualifikation allerdings oft auch nicht. Die Minderheit der Roma ist überproportional von Armut betroffen, sie haben den geringsten Zugang zu Bildung und dem Arbeitsmarkt. Mit über 100 000 Menschen sind die Roma die drittgrößte Volksgruppe des Landes. Wie viele es genau sind, weiß niemand, weil man sich in Mazedonien seit 15 Jahren nicht auf die Modalitäten für eine Volkszählung verständigen kann. In dem Roma-Viertel „Shuto Orizari“ bei Skopje empfängt Adnan Mehmed, Kabinettschef des Bürgermeisters, die Abgeordneten und schildert die Lebensumstände, die in „Shuto Orizari“ vergleichsweise gut sind. Die Menschen leben nicht in improvisierten Bretterverschlägen, die man am Stadtrand von Skopje immer wieder sehen kann, sondern in befestigten Häusern. Es gibt ein Theater, eine Verwaltung, zwei Grundschulen und auch eine Mittelschule. Seit einigen Jahren gibt es auch Roma-Lehrer, darauf sei man sehr stolz. Aber die Arbeitslosigkeit ist hoch, drei Viertel der Bevölkerung in „Shuto Orizari“ beziehen Sozialhilfe von rund 75 Euro. Mehmed räumt ein, dass manche Einwohner in Deutschland Asyl beantragen würden, um dort dringend benötigte medizinische Behandlung zu erhalten. „Wir sind sehr dankbar, dass Deutschland das tut“, sagt Mehmed. Deutschland sei das Land, das die Roma am besten behandele. Wieviel Teilhabe die Roma an der mazedonischen Gesellschaft tatsächlich erreichen können, bleibt laut Mehmed ungewiss. Die Roma sind in der Verwaltung und der Politik weiterhin klar unterrepräsentiert. Zwar gibt es in der neuen Regierung Mazedoniens einen Roma, aber der habe keinen Geschäftsbereich. „Wir wissen nicht, was er für uns tun wird“.

Jede vierte Beschwerde an den Ombudsmann ist berechtigt

Eine Möglichkeit sich gegen Benachteiligung und Ausgrenzung zu wehren ist ein Brief an Admir Mehmedi, den Ombudsmann des Parlaments. Er bestätigt ohne langes Zögern: die Roma sind die mit Abstand meist diskriminierte Bevölkerungsgruppe in Mazedonien. Vor allem auf kommunaler Ebene sei politische Diskriminierung nicht selten. Seit 2005 befasst sich Mehmedi mit Beschwerden über Benachteiligungen und Diskriminierung. Vorbild sei das skandinavische Modell, jährlich landen rund 4000 Fälle auf seinem Schreibtisch. Bei über einem Viertel der Fälle sieht er die Beschwerden als berechtigt an – eine recht hohe Quote, wie Mehemedi selbst betont. Unter anderem wird er auch als Prozessbeobachter tätig, wenn ein Bürger darum bittet. Für deutsche Ohren klingt das eigenwillig. Mehmedi will aber keineswegs die Unabhängigkeit der Justiz in Frage stellen. „Wir sammeln Beweise, beraten den Betroffenen, sprechen mit Behörden. Ich versuche mit Empfehlungen ein rechtsstaatliches Verfahren zu garantieren, den Betroffenen zu unterstützen und Verletzungen von Bürgerrechten präventiv zu vermeiden.“
Auch die Haftbedingungen und die Psychiatrie beschäftigen ihn häufig. Letzten Endes kann Mehmedi nur Empfehlungen abgeben. „Für das Parlament ist mein Jahresbericht die Chance die Regierung unter Druck zu setzen. Aber das wird nicht so oft getan, wie ich es mir wünsche. Ich kann nichts erzwingen“. Die Behörden entscheiden ob und wann sie den Empfehlungen folgen. Alles in allem würden sie bei gut 90 Prozent seiner Empfehlungen folgen, nur sei der Weg dorthin oft mühsam und langwierig. Mehmedi beklagt auch den Stellenabbau seiner Behörde von 94 auf 62 Mitarbeiter. Gleichzeitig sei die Anzahl der staatlichen Angestellten in den letzten Jahren fast verdoppelt worden. Ein Thema frustriert Mehmedi besonders: Beschwerden gegen die Polizei seien aussichtslos. Jeder einzelne Fall würde abgebügelt. „Es fehlt der Wille, etwas zu unternehmen“, stellt Mehmedi fest.

Fortgesetzt wird die Informationsreise in das benachbarte Kosovo, wo die Probleme ähnlich gelagert sind. Nur treten sie dort noch massiver auf, im Unterschied zur ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien muss die die jungen Republik Kosovo – bis heute von 82 der 193 UN-Mitgliedsstaaten nicht anerkannt – seit der Unabhängigkeit 2008 erst alle staatlichen Strukturen neu aufbauen. Dabei gab und gibt es Kritikpunkte der internationalen Staatengemeinschaft. Kosovo gilt als das korrupteste Land Europas, es gibt keine allgemeine Krankenversicherung, die Luftwerte in der Hauptstadt Pristina sind schlechter als in Peking.
Die Stadt ist binnen zweier Jahrzehnte von einem beschaulichen Provinzstädtchen zu einem Ort mit einer halben Millionen Einwohner gewuchert. Fast ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung findet keine Beschäftigung und dabei wächst das Land rasant. Kosovo hat bei rund 1,7 Millionen Einwohnern die höchste Geburtenrate des Kontinents, mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25 Jahre alt.

Im Kosovo gibt es keine Krankenversicherung

Jedes Jahr drängen 30 000 junge Kosovaren auf den Arbeitsmarkt, bei den Jungen liegt die Arbeitslosigkeit bei über 50 Prozent. Selbst wer Arbeit hat, kämpft bei einem Durchschnittslohn von 300 Euro und hohen Energiepreisen mitunter ums reine Überleben. Mit der Sozialhilfe von 65 Euro kommt niemand über die Runden, zumal man für medizinische Behandlung und Medikamente selber zahlen muss. Wenig überraschend also, dass viele Kosovaren ihr Glück im Ausland suchen, manche im Irak und Syrien beim sogenannten IS. Beunruhigend viele Kämpfer melden sich aus dem kleinen Kosovo freiwillig. Die weitaus meisten zieht es aber nach Europa zum Arbeiten und nicht zum Kämpfen. Alleine in Deutschland leben rund 300 000 Kosovaren.
In Pristina hilft der Deutsche Informationspunkt für Migration, Ausbildung und Karriere (DIMAK) den Menschen, die in Deutschland arbeiten wollen und um jene, die aus Deutschland zurückgeführt wurden – in der Regel nach einem abgelehnten Asylgesuch – und nun im Kosovo nach Arbeit suchen. Betrieben wird das DIMAK von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), deren Landesdirektor James Macbeth Forbes eine wichtige Aufgabe darin sieht, die falsche Mundpropaganda mit Information zu bekämpfen. „Es werden völlig falsche Vorstellungen über das Leben in Deutschland verbreitet, vor allem über die sogenannten sozialen Netzwerke. Deswegen operieren wir mit Facebook, um die jungen Menschen zu erreichen. Das funktioniert sehr gut, wir haben 20 000 Zugriffe täglich.“ Zum einen geht es den Mitarbeitern des DIMAK darum Rückkehrer wieder in die kosovarische Gesellschaft zu integrieren, gleichzeitig sollen jenen, die unbedingt aus dem Kosovo nach Deutschland wollen, realistische Möglichkeiten aufgezeigt werden.

Deutschland hilft bei der Reintegration von Rückkehrern

„Oft wird den Menschen im Beratungsgespräch bewusst, dass ihnen entscheidende Qualifikationen für ein Berufsleben in Deutschland fehlen, angefangen bei der Sprache.“ Das Bildungssystem sei leider nicht mit dem in anderen europäischen Ländern zu vergleichen. „Wir suchen dann nach Möglichkeiten die Fähigkeiten und Begabungen zu finden, die den Einstieg in einen Beruf im Kosovo ebnen. Für viele ist das ein Aha-Erlebnis, weil ihnen selber gar nicht klar ist, was in ihnen steckt.“, sagt Forbes und zeigt sich verhalten optimistisch. „Wir können bei unseren Jobmessen immer wieder Leute vermitteln.“ Es klingt nicht nach viel, wenn man an einem Tag 800 Stellen besetzen könne, aber für das Kosovo sei es viel. „Da hängen Familien dran, die dann im Kosovo bleiben und dazu beitragen, das Land aufzubauen.“ Auch wenn man verstehen könne, dass viele ein besseres Leben irgendwo anders suchen, sei es im Interesse aller, wenn nicht alle qualifizierten Köpfe das Land verlassen. Sonst würden ganz Landstriche veröden.
Darin stimmen die einheimischen Mitarbeiter im DIMAK zu. Sie waren in Deutschland und haben sich bewusst entschieden in den Kosovo zurück zu gehen und dort zu helfen. Wie auffallend viele junge Albaner im Kosovo sprechen sie makelloses Deutsch und fühlen sich als Vermittler zwischen den Welten. Abschließend zollt Forbes den Mitgliedern des Petitionsausschusses Respekt dafür, immer wieder über schwierige Fälle von möglicher Rückführung entscheiden zu müssen. „Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken“. Wichtig sei ihm aber eine Sache: Wenn die Leute in den Kosovo zurück müssten, dürfe man sie auf keinen Fall sich selbst überlassen und in ein Loch fallen lassen. „Wenn die hier kein Licht sehen, sind die gleich wieder auf dem Weg nach Deutschland, da muss man Hilfestellungen geben.“

"Schickt keine Minderjährigen zurück"

Grundsätzlich sieht das auch Kushtrim Nreci so, der zuständige Abteilungsleiter für Reintegration im Innenministerium des Kosovo – vor dem neben der Fahne der Republik Kosovo auch das US-Banner und die albanische Flagge weht. Die Reintegration laufe auch dank der hervorragenden Zusammenarbeit mit der deutschen Botschaft gut. 2016 habe man 16 000 Menschen reintegrieren können, meist aus Deutschland. Das Ministerium werde rechtzeitig über jeden Fall unterrichtet und könne so entsprechende Maßnahmen einleiten, wie den Transport zum Heimatort und die Organisation einer Unterkunft. Man unterstütze auch die Existenzgründung. „Wir fordern die Leute auf, Businesspläne zu erstellen und sich beispielsweise als Kleinunternehmer selbstständig zu machen.“ Laut Nreci funktioniert das recht gut. Angst vor Verfolgung müsse keiner haben, der in den Kosovo zurückkomme.
„Das wird behauptet, um einen Asylantrag stellen zu können. Kosovo ist ein sicheres Land, keine Ethnie wird hier verfolgt. Manchmal gibt es Fälle von häuslicher Gewalt, dann bieten wir der Frau Schutz und eine neues Leben hier in Pristina“, so Nreci. Eine Problematik bestehe aber – die Rückführung minderjähriger Flüchtlinge. Nreci bittet inständig darum, Kinder und Jugendlich ausschließlich dann zurückzuführen, wenn die Familienverhältnisse vollständig geklärt seien. „Nachdem ich das hier als Treffen unter Freunden sehe, bitte ich ausdrücklich darum, keine Minderjährigen zu schicken, bei denen wir nicht wissen, zu wem sie gehören“. Nrecis Appell macht Eindruck auf die Delegation. Ebenso das Engagement der Diakonie in Mitrovica, einer Stadt im Norden des Kosovo. Denn der Vorsitzende Bernd Baumgarten sorgt mit seinen Helfern dafür, dass die Versprechen der Regierung zu Reintegration auch umgesetzt werden können.

"Eine gebrauchte Nähmaschine sichert eine Existenz"

82 Helfer aller Ethnien und Religionszugehörigkeiten arbeiten hier. Sie holen die Menschen vom Flughafen ab, kümmern sich um den Papierkrieg und Behördengänge. Wer nicht weiß wohin, kann erst mal im Diakonie Training Center bleiben. Baumgarten berichtet, dass insbesondere jene Rückkehrer, die zu einer Minderheit zählen außerordentlich schlechte Aussichten haben. Die Arbeitslosenquote unter den Minderheiten beträgt 90 Prozent. Die Reintegration erfolgt in Abstimmung  mit der Botschaft, die Rolle der kosovarischen Regierung bei dem Prozess ist nicht ganz leicht zu bewerten. Ohne das Engagement vieler ausländischer Organisationen würden offenbar einige der 1600 Menschen, die 2016 aus Deutschland in den Kosovo zurückgeführt wurden, wohl erhebliche Probleme haben. „Kosovo ist sicher kein failed state, wie man immer mal wieder lesen kann. Aber es gibt große Schwierigkeiten“ berichtet Baumgarten. Das gelte nicht nur bei der Reintegration, sondern generell in fast allen sozialen Fragen.
Behinderte etwa würden immer noch versteckt, bei der Diakonie gibt man ihnen Beschäftigung und ein soziales Umfeld. Auch Berufsausbildungen für alle jene, die keinen richtigen Schulabschluss haben, bietet die Diakonie, etwa zur Näherin oder zur Frisörin. Vor allem Frauen gibt das die Möglichkeit, sich selbstständig zu machen und eigenes Geld zu verdienen. „Schon eine gebrauchte Nähmaschine, die wir einer Frau nach der Ausbildung schenken, kann Fluchtursachen bekämpfen“, ist Baumgarten überzeugt. Neben den vielen praktischen Aktivitäten ist Baumgarten die psychosoziale Beratung und die Ausbildung von Therapeuten wichtig. Vielen sei gar nicht bewusst, dass sie traumatisiert seien und diese Traumata mit die Gründe für die schwierige Lebenssituation sein können.

Zaghafter Dialog zwischen Albanern und Serben

Auch die Versöhnungsarbeit liegt Baumgarten am Herzen. In der zwischen Serben und Albanern getrennten Stadt Mitrovica führt er die Volksgruppen bei kulturellen Veranstaltungen zusammen. An der Brücke über den Fluss Ibar, der die Stadt de facto teilt, steht das Jugendzentrum in dem Albaner, Serben, Roma und andere sich in einem geschützten Raum begegnen können. Etwa beim gemeinsamen Tanzen. Die Brücke über den Ibar ist für Fußgänger passierbar und tatsächlich gehen ständig Menschen von Süd nach Nord und umgekehrt. Noch vor drei, vier Jahren wäre das undenkbar gewesen. Die Mauer, die man auf serbischer Seite am Ende der Brücke errichtet hat, ist abgerissen. Bald soll auch der Autoverkehr rollen, der Bürgermeister des serbischen Teils blockiert noch. Dennoch hat sich viel getan.
Polizeiautos der Republik Kosovo fahren durch den Nordteil, die serbischen Polizisten tragen die offiziellen Uniformen. Die neue Freizügigkeit sei ein großer Verdienst sagt Miki Marinkovic von der serbischen Aktivistengruppe „Aktiv“. Aber sonst läge immer noch vieles im Argen für die serbische Minderheit im Kosovo, die seit dem Krieg 1999 von 300 000 auf etwa 80 000 Menschen geschrumpft ist. Die meisten leben nördlich des Ibar und werden von Serbien unterstützt. „Aktiv“ besteht darauf, kein Geld aus Belgrad zu bekommen. „Keinen Cent, das gibt uns Freiheit auch Serbien zu kritisieren“, erklärt Marinkovic. Die größere Kritik gibt es aber an der Regierung Kosovos. Hauptvorwurf: Die Verfassung und die Gesetze der Republik Kosovo würden von der Regierung systematisch missachtet. „Die Gesetze sind sehr, sehr gut. Aber sie werden nicht umgesetzt.“ Das gelte bei der Sprachenpolitik bis hin zum Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und das Bildungswesen – den serbischen Kindern werden keine Schulbücher auf Serbisch zur Verfügung gestellt. Und das Ausstellen von Dokumenten sei schwierig bis unmöglich.

"Die Regierung des Kosovo missachtet die Verfassung der Republik"

Immerhin: Aktiv ist in Kontakt mit den Behörden des Kosovo und erkennt die Institutionen des Landes an, was für manche serbische Hardliner bereits Hochverrat darstellt. Für Marinkovic ist aber der Dialog der einzig sinnvolle Weg für die Serben im Kosovo. „Wir arbeiten im Rahmen des Systems und geltender Abkommen. Wenn wir den Weg Serbiens und des Kosovo in die EU blockieren, schaden wir uns selbst“, ist er überzeugt. Wichtig sei auch zivilgesellschaftliches Engagement um beispielsweise die kulturellen und wirtschaftlichen Kontakte zwischen Serben und Albanern zu intensivieren. Deswegen arbeite man auch mit albanischen Initiativen zusammen. Ausschussvorsitzende Stierstorfer hält das für einen richtigen Ansatz. „Man muss sich der Zukunft stellen, auch wenn die Wunden der Vergangenheit schmerzen“.
Auch auf albanischer Seite beschäftigt man sich kritisch mit der Regierung und den offenkundigen Problemen des Landes. Das Kosova Democratic Institute (DKI) etwa hat im Internet eine Plattform eingerichtet, die penibel die Aktivitäten der Parlamentarier verfolgt. Anwesenheit, Abstimmungsverhalten, Loyalität zur eigenen Fraktion, Statements zu Bürgerfragen, all das wird dokumentiert und aufgeschlüsselt. Und so stellt sich heraus, dass der Fraktionschef der Regierungspartei es in einer Wahlperiode nur zweimal geschafft hat an einer Abstimmung teilzunehmen. „Wir wollen Transparenz schaffen“, sagt KDI-Direktor Ismet Kryeziu. Es gehe um mehr Bürgerbeteiligung und vor allem mehr Teilhabe der Frauen. Kryeziu spricht es nicht aus, aber es ist klar: einige Probleme des Kosovo haben viel mit der politischen Klasse des Landes zu tun, die oft aus Kriegsveteranen besteht, denen im jungen Staat ein steiler gesellschaftlicher Aufstieg gelungen ist und die kein Interesse daran haben, Privilegien aufzugeben. 4,2 Millionen Euro bekommen die Parteien im Parlament jedes Jahr vom Staat. In einem Land, in dem ein Kilo Gurken 15 Cent kostet, ist das sehr viel Geld. Deswegen legt KDI auch die nachweisbaren Ausgaben der Politiker offen, was interessante Rückschlüsse auf das tatsächliche Einkommen erlaubt. Denn das ist oft die Frage im Land – wo kommt das Geld her für all die prächtigen Häuser, teuren Autos, die unzähligen Tankstellen, die als Geldwäschemodell sehr beliebt sind. Das Parlament kontrolliere die Regierung nicht wirklich, wirft KDI den Abgeordneten vor. Und die Regierung erklärt sich nicht. Deswegen sollen die Bürger über das Internet die Abgeordneten kontrollieren. Es gibt auch ein Forum, auf dem man Informationen austauschen und überprüfen kann.
Es sollen Ungereimtheiten, Ungerechtigkeiten, Fehler im System festgehalten werden.

Unabhängigkeit des Justiz bleibt ein Problem im Kosovo
Davon gibt es gerade in der Justiz viele. Während sich die neu ausgebildete Polizei einen exzellenten Ruf erarbeitet hat, sorgen die Gerichte und Strafvollzugsanstalten für beständige Aufregung. Verurteile Verbrecher bekommen trotz langjähriger Haftstrafen sofort Urlaub und verschwinden spurlos – oder sie werden trotz eindeutiger Beweislage gar nicht erst verurteilt. Justizministerin Dhurata Hoxha weiß um den Reformbedarf, versichert sie. „Besonders in der Zivilgerichtsbarkeit wollen wir eng mit Deutschland zusammen arbeiten.“ Die bisherigen Reformversuche seien uneinheitlich gewesen und müssten harmonisiert werden, um europäische Standards zu erreichen.
Auch das Strafrecht soll angepasst werden, damit Haftstrafen vollzogen werden können. Ziel sei eine insgesamt größere Unabhängigkeit der Gerichte. Vor allem in die juristische Ausbildung müsse investiert werden, auch hier wieder nach deutschem Vorbild. „Wir brauchen frisches Blut von außen und mehr Personal.“ Bis Verfahren anliefen würden oft bis zu zwei Jahren vergehen, das könne das Vertrauen in die Justiz erschüttern.
Bernd Thran, stellvertretender Leiter der Eulex-Mission, die im Kosovo Rechtsstaatlichkeitsmissionen koordiniert, sieht in der Justiz das größte Problem für weitere Fortschritte in der Region. „Wenn wir den Kosovo irgendwann verlassen, muss Beständiges bleiben. Und bei der Gerichtsbarkeit läuft nicht immer alles rund, um das einmal so auszudrücken“, umschreibt Thran seine Bedenken. Er plädiert klar dafür, das Mandat der EU-Mission Eulex zu verlängern, sonst sehe er die Rechtsstaatlichkeit im Kosovo in Gefahr.


"Kosovo ist kein failed state"



Denn trotz mancher ätzender Presseberichte gestalte sich der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft ansonsten den Umständen entsprechend gut. Und es gäbe einige engagierte Richter und Staatsanwälte, die müsse man unterstützen. „Das Geld für die Verlängerung der Mission ist gut angelegt“, versichert Thran und ist zuversichtlich, dass die neuen Prozesse gegen Kriegsverbrecher besser laufen als in der Vergangenheit, als Zeugen bei Unfällen tödlich verunglückten oder ihre Aussagen überraschend zurückzogen. „Es gibt ein eigenes Zeugenschutzprogramm, das ist in europäischer Hand, und die Prozesse finden in Haag statt“, betont Thran.
Eine intensive, aber lohnende Informationsreise, konstatieren die Mitglieder des Ausschusses. Alle nehmen neue Erkenntnisse und bleibende Eindrücke mit aus einer Region, über die man kaum etwas weiß, obwohl sie nur eine Flugstunde entfernt ist und immer erst Interesse erregt, wenn etwas schief läuft.

Der Ausschuss des Landtags ist mit zahlreichen aufenthaltsrechtlichen Eingaben befasst. Die Anzahl hatte zuletzt im Lichte der jüngsten Migrationssituation spürbar zugenommen. In der laufenden Legislaturperiode hat der Ausschuss über 450 Eingaben mit ausländerrechtlichem Bezug beraten.

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