Gemeinsam gegen Antiziganismus in der EU
Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie regionale Beziehungen
1. Juli 2025
MÜNCHEN. Die zwischen 80 000 und 150 000 deutschen Sinti und Roma - genaue Zahlen liegen nicht vor - sehen sich wieder verstärkt Diskriminierung, Rassismus und persönlichen Angriffen ausgesetzt. Bayern bildet keine Ausnahme. In einer Anhörung des Ausschusses für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie regionale Beziehungen schilderten Vertreter der als nationale Minderheit anerkannten Gruppe sowie Wissenschaftler die Lage und gaben der Politik Empfehlungen für eine Verbesserung der Lebenssituation.
Mit zum Teil eindringlichen Schilderungen machten Vertreter der Sinti und Roma in einer Anhörung des Bundes- und Europaausschusses zum Kampf gegen den Antiziganismus auf die auch historisch gewachsen schwierige Lage der Volksgruppe aufmerksam. Berichtet wurde von bewusst geschürtem Rassismus, aber auch von oftmals unbewusster Alltagsdiskriminierung. Beklagt wurden über Generationen tradierte und von Medien weitergetragene Klischees, lückenhaftes Wissen in der Gesellschaft über die systematische Verfolgung und Ermordung von rund 500 000 Sinti und Roma während des Nationalsozialismus und selbst in Behörden tief verankerte Vorurteile. Um Ausgrenzung und Benachteiligung zu vermeiden, würden viele Sinti und Roma ihre Herkunft und Kultur verleugnen.
"Sinti und Roma sind deutsche Staatsbürger"
Der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, würdigte, dass Bund und Freistaat ihre Verantwortung gegenüber der Volksgruppe mehr und mehr wahrnehmen würden. Er nannte die Anerkennung als nationale Minderheit und den 2018 zwischen dem Freistaat und dem bayerischen Landesverband geschlossenen Staatsvertrag. Andererseits spüre man bis heute die Auswirkungen, dass man - anders als die vom NS-Terror verfolgten Juden - nach 1945 vier Jahrzehnte lang von der Erinnerungskultur ausgeschlossen gewesen sei. In dieser Zeit habe sich auch die Diskriminierung als "Zigeuner" im Nachkriegsdeutschland verfestigt, was bis heute nachwirke. "Wir sind seit 600 Jahren Deutsche, das muss dieses Land endlich respektieren", mahnte Rose. "Heute sind wir deutsche Staatsbürger und stolz auf das Grundgesetz."
Aus wissenschaftlicher Sicht erklärte Markus End vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, dass es in Deutschland neben bewussten rassistischen Anfeindungen vor allem aus der rechtsextremen Szene auch einen "strukturellen Antiziganismus" gebe. Dieser äußere sich unter anderem in einer teilweise noch immer von Vorurteilen geprägten Polizeiarbeit, die Sinti und Roma oft eine durch Daten nicht gestützte höhere Kriminalitätsneigung zuweise. In der Sozialarbeit werde der Gruppe eine besondere Bedürftigkeit unterstellt und in den Medien würden häufig unhaltbare Stereotype verbreitet. So bestünden Bilddatenbanken über Sinti und Roma zu 95 Prozent aus stigmatisierenden Fotos, auf denen bettelnde Kinder oder tanzende Gruppen zu sehen seien. Diese Einseitigkeit des Materials erschwere die objektive Berichterstattung.
Alte Vorurteile noch heute "wirkmächtig"
Der Juniorprofessor für Unsicherheitsforschung und gesellschaftliche Ordnungsbildung an der Münchner Universität der Bundeswehr, Timothy Williams, betonte, historische tradierte Vorurteile gegen Sinti und Roma seien auch in der heutigen Gesellschaft noch "wirkmächtig". Dies betreffe den Bildungsbereich, wo Kinder der Volksgruppe überdurchschnittlich häufig an Förderschulen geschickt würden, den Wohnungsmarkt, aber auch Behörden. Nach Angaben von Erich Schneeberger, dem bayerischen Landesvorsitzenden der Sinti und Roma, hat die neu eingerichtete Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) 2024 205 Übergriffe auf Sinti und Roma in Bayern registriert, fast 80 mehr als Vorjahr. Etwa 90 Prozent der Fälle betrafen verbale Diskriminierungen und Beschimpfungen, der Rest waren tätliche Angriffe oder Bedrohungen.
Weiterhin Angst vor Stigmatisierung
Seine Stellvertreterin Marcella Reinhardt berichtete, MIA werde seit ihrer Gründung 2023 mit Beratungsanfragen Betroffener regelrecht überrannt. Man gehe trotzdem von einer hohen Dunkelziffer aus. Viele Sinti und Roma trauten sich aus Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung nicht, sich zu melden. Laut Rose verleugneten viele ihre Identität aus Furcht vor Anfeindung und Benachteiligung. "Der eingewurzelte Hang zum Rassismus in der Gesellschaft treibt unsere Leute in die Anonymität", formulierte Rose drastisch. Das sei "unerträglich". Auf die vielfach dramatische Lage der Sinti und Roma in den Staaten Ost- und Südosteuropas verwies MIA-Geschäftsführer Guillermo Ruiz Torres. Dort würden ihnen oft nicht einmal fundamentale Menschenrechte gewährt. Die Folge sei eine Fluchtbewegung, auch in Richtung Deutschland. Hier sei die Lage zwar deutlich besser, doch erlebten die Betroffenen trotzdem oft eine Benachteiligung gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine, zum Beispiel bei der Gewährleistung des Schulbesuchs.
"Aufklärung und Begegnung auf Augenhöhe"
Die Expertenrunde listete eine ganze Reihe von Vorschlägen auf, um Lage und Ansehen der Sinti und Roma zu verbessern. So sagte der Wissenschaftler und Gründer der Selbsthilfeorganisation Romanity e.V., Radoslav Ganev, es brauche "Aufklärung und Begegnung auf Augenhöhe". Auch in der im internationalen Vergleich hervorragenden Ziganismus-Forschung in Deutschland würden noch immer zu viele alte Stereotype tradiert. End mahnte die Gesellschaft zu mehr Selbstreflexion. Beim Abbau von Vorurteilen oder Diskriminierung könne jeder bei sich selbst anfangen. Reinhardt forderte die dauerhafte staatliche Unterstützung für das MIA-Projekt. Derzeit liefen die Förderzusagen 2026 aus. "Was sollen wir danach mit den Menschen machen, die bei uns Rat und Hilfe suchen", fragte sie. Williams plädierte für eine umfassende Sensibilisierung der Gesellschaft für die Sorgen und Belange der Sinti und Roma. Dies müsse mehr Eingang in die Bildungseinrichtungen finden. Für die Mitarbeiter von Polizei und Behörden brauche es gezielte Antidiskriminierungstrainings. Hilfreich wäre aus Williams Sicht auch ein Beauftragter der Staatsregierung für Antiziganismus. Schneeberger rückte die Verantwortung der Medien in den Mittelpunkt. Zu oft finde sich in Berichterstattung, aber auch in fiktionalen Filmen aus Unwissenheit oder Unbedarftheit negative Stereotypisierung oder Rassismus in Bezug auf Sinti und Roma. Die Einbeziehung der Vertreter der Volksgruppe in die Aufsichtsgremien öffentlich-rechtlicher und privater Rundfunksender bezeichnete Schneeberger in diesem Zusammenhang als "gesellschaftspolitisch notwendig".
Fraktionsübergreifende Entschließung angeregt
Unter dem Eindruck der Schilderungen regte Tagungsleiter Karl Freller (CSU) eine fraktionsübergreifende Entschließung des Landtags mit Forderungen an Gesellschaft und Staatsregierung an. Die aktuelle Entwicklung sei "alles andere als beruhigend". Es bestehe die Verpflichtung, "deutlich gegen Ressentiments und Vorurteile vorzugehen". Parlamentsvizepräsident Markus Rinderspacher (SPD), dessen Fraktion die Durchführung dieser Anhörung beantragte, betonte, der Antiziganismus müsse auf allen politischen Ebenen konsequent bekämpft werden. Dieser sei "kein Randproblem, sondern ein Angriff auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt". Cemal Bozoğlu (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN) sprach sich für eine Verstärkung der Erinnerungsarbeit sowie mehr Opferschutz und -beratung aus. Für die FREIEN WÄHLER erklärte Gabi Schmidt, man dürfe bei aller eigenen Betroffenheit die Augen vor den Vorgängen in osteuropäischen EU-Staaten nicht verschließen. Man stehe in der Pflicht, auch dort eine Verbesserung der Lebenssituation von Sinti und Roma einzufordern. Mitglieder der AfD-Fraktion nahmen an der Anhörung nicht teil.
/ Jürgen Umlauft