"Für eine EU ohne Antisemitismus"

Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie regionale Beziehungen

11. Juni 2024

MÜNCHEN.    In der Landtagsanhörung im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie regionale Beziehungen zum Thema „Für eine EU ohne Antisemitismusdiskutierten die Experten mögliche Handlungsansätze. Seit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober ist der Antisemitismus geradezu explodiert.

Acht Experten konnte die stellvertretende Ausschussvorsitzende Ulrike Müller (FW) zu dem hochaktuellen Thema begrüßen, das aufgrund eines Dringlichkeitsantrages der SPD-Fraktion diskutiert wurde. Zunächst machte jedoch die stellvertretende israelische Generalkonsulin Kasa Bainesay-Harbor deutlich, dass die „barbarische Attacke“ der Hamas das Leben von Juden innerhalb und außerhalb Israels für immer verändert habe. Nicht nur in Nahost, sondern auch an US-Universitäten und in Europa sei danach der Judenhass in großem Ausmaß öffentlich geworden. Mit dem Satz „From the river to the sea, palestine must be free“ werde von propalästinensischen Demonstranten in Wahrheit der Genozid an Juden gefordert. Auch würden mit Sprüchen wie „Kindermörder Israel“ oder „Apartheidstaat“ Fakten völlig verdreht und Doppelstandards angelegt. „Wie wir alle wissen, führen Worte zu Taten.“ Juden fühlten sich weltweit nicht mehr sicher, könnten außerhalb Israels nicht mehr hebräisch sprechen oder ihre traditionelle Kopfbedeckung tragen. „Antisemitismus beginnt mit einem Regentropfen und am Ende findet man sich im Ozean wieder“, mahnte Bainesay-Harbor.

„Nie wieder“ ist abgenutzt

„Beim Antisemitismus handelt es sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts um ein globales Phänomen mit nationalen Besonderheiten“, sagte Ao. Univ.-Professorin Dr. Helga Embacher, Zeithistorikerin am Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg. Die Transnationalität zeige sich auch an amerikanischen Eliteuniversitäten, die nach Europa ausstrahlten, sowie durch Angriffe auf Synagogen wie in Halle 2019 oder Pittsburgh 2018. Dazu zählten auch jüdische Feindbilder wie Soros oder Rothschild. Auch Teile sozialer Bewegungen wie Black Lives matter oder Klimaaktivisten hätten sich „anschlussfähig für Antisemitismus“ gezeigt. Embacher erinnerte auch an den Terror gegen Juden in Frankreich und Belgien in den letzten Jahren, meist durch junge Islamisten. Ein erfolgreicher Kampf gegen Antisemitismus könne „nur gemeinsam mit einem Kampf um ein stärkeres Demokratiebewusstsein geführt werden“.

Auch der Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten Karl Freller, MdL (CSU), wies auf die Dimension des Hamas-Terrors mit 1200 Toten und 3800 Verletzten in Israel hin. Er schilderte grauenhafte Berichte der Pathologen, die nachwiesen, dass Israelis beispielsweise bei lebendigem Leib verbrannt und Schwangeren das Kind aus dem Leib geschnitten wurde. Hinzu kämen Massenvergewaltigungen und die Geiselnahmen. Hier sei es wie in der NS-Zeit um „Antisemitismus pur“ gegangen. „Dieser Hass auf Juden, der immer wieder durchbricht, muss uns Sorgen machen“, betonte Freller. Es sei Aufgabe der Gedenkstätten, in Deutschland dafür zu sorgen, dass das nie wieder geschehe. „Aber dieses ‚Nie wieder‘ hat sich abgenutzt und an Substanz verloren.“ Besonders viele junge Menschen hätten jetzt bei der Europawahl für rechtsradikale Parteien gestimmt, darum dürfe man in der Bildungsarbeit nicht nachlassen. „Wir müssen mehr machen. Wir müssen auch junge Menschen muslimischen Glaubens erreichen.“

„Hass auf Juden ist eine der größten Herausforderungen für unser demokratisches Zusammenleben in Deutschland und der EU“, mahnte Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. 2023 habe es in Deutschland 5164 antisemitische Straftaten gegeben, die mit Abstand höchste Zahl bisher und eine Verdopplung zum Jahr 2022. 30 Prozent der Hasskriminalität richte sich gegen die verschwindend geringe Minderheit der Juden. In Deutschland gebe es die Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben (NASAS), ein Netz von Anlaufstellen und Maßnahmen. Allerdings bräuchten die Strafverfolgungsbehörden bessere Bekämpfungsmittel. Klein forderte, den Aufruf zur Vernichtung anderer Staaten unter Strafe zu stellen. Aus Perspektive der jüdischen Community genieße der von der umstrittenen Präsidentin der TU Berlin dort eingesetzte Antisemitismusbeauftragte kein Vertrauen. Ein weiteres Problem sei der schwierige Kampf gegen Antisemiten im Internet.

Mauern und Panzerglas

„Jüdisches Leben heißt heute, nicht sichtbar jüdisch zu leben“, berichtete Dr. h. c. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. „Es bedeutet, mit Unsicherheit zu leben.“ Man müsse sich „zwischen dicken Mauern und Panzerglas“ von jüdischen Einrichtungen bewegen und ohne jüdische Erkennungsmerkmale auftreten. Zwar habe sich gerade Bayern mit praktischer und rechtlicher Unterstützung der jüdischen Mitbürger hervorgetan, auch gebe es hier viele Partner aus der Zivilgesellschaft, „aber die Unsicherheit bleibt“. Wenn selbst der „Epocheneinschnitt des 7. Oktober nur eine kurze Schamfrist der Solidaritätsbekundungen“ bringe, müsse sich etwas ändern. Besonders bedauerte Knobloch den „unverantwortlichen“ Beitritt Spaniens zur Völkermordklage Südafrikas gegen Israel und dass die israelische Sängerin beim Eurovision Songcontest in Malmö nur unter Polizeischutz auftreten konnte. Die europäische Einigung mit Frieden und Demokratie für alle sowie der Staat Israel seien die Schutzpfeiler für Juden. „Heute werden beide Pfeiler angegriffen“, so Knobloch. Es sei viel Arbeit und Mut erforderlich, um das „europäisch-jüdische Schiff aus dem bedrohlichen Fahrwasser herauszuholen“.

Katharina von Schnurbein, Koordinatorin der Europäischen Kommission für die Bekämpfung des Antisemitismus und die Förderung des jüdischen Lebens, sagte, es sei „tragisch und schmerzhaft, dass Juden in Europa seit dem 7. Oktober wieder in Angst leben“ müssten. Die EU-Mitgliedstaaten verfolgten unterschiedliche Strategien im Kampf gegen Antisemitismus. Maßnahmen gegen Antisemitismus zeigten nicht mehr die Wirkung wie früher, darum brauche es neue Ideen – auch wenn die EU nicht für Bildung zuständig sei. Gefahren für Juden gebe es leider nicht nur an Universitäten. „Der Kompass hängt schief.“ Sie gab zu bedenken: „Auch diejenigen, die hierzulande auf den Straßen den Hamas-Terror feierten, gingen durch unser Bildungssystem.“ Die Situation online sei „furchtbar“ gewesen, der Digital Service Act (DSA) habe nur Schlimmeres verhindern können. Die EU müsse und werde handeln, „neue Allianzen schmieden“. „Wir sollten nicht vergessen: Es beginnt mit den Juden, aber es endet nicht mit ihnen.“

„Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Welt für Juden eine andere, auch in Bayern“, warnte Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er fragte, wie es sein könne, dass ein Konflikt Tausende Kilometer entfernt „einen solchen explosionsartigen Anstieg des Antisemitismus“ in Europa auslösen und was man dagegen tun könne. Schuster nannte die drei Punkte Einfluss der sozialen Medien, Unterstützung der Betroffenen in der EU und eine einheitliche Definition von Antisemitismus. In den sozialen Medien würden falsche Informationen unwidersprochen verbreitet, sie seien ein „Brandbeschleuniger“. Schuster mahnte: „Was im öffentlichen Raum verboten ist, darf im digitalen Raum nicht erlaubt sein.“ Es brauche europaweit eine einheitliche Definition von Antisemitismus, um diesen vor Gericht bekämpfen zu können. Wer Palästina „from the river to the sea“ errichten wolle, der habe in der Schule nicht aufgepasst.

Aber sogar zwei deutsche Oberverwaltungsgerichte hätten realitätsfremd den Slogan als nicht strafbar beurteilt, weil der Slogan auch so verstanden werden könne, dass ein Zusammenleben von Israelis und Palästinensern in einem Staat „möglich“ sei.

Fundamentale Erschütterung

Dr. Annette Seidel-Arpaci, Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS) in Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und Demokratie, berichtete von einem 73-prozentigen Anstieg der dokumentierten antisemitischen Vorfälle in Bayern 2023 im Vergleich zum Vorjahr. Neben diesen 733 dokumentierten Vorfällen gebe es eine hohe Dunkelziffer. 50 Prozent dieser Vorfälle hätten sich zudem erst nach dem 7. Oktober 2023 ereignet. 103 jüdische Einzelpersonen seien betroffen gewesen, eine Verdopplung, zudem 42 jüdische oder israelische Institutionen. Für das Jahr 2024 sei die Tendenz weiter steigend. Seidel-Arpaci nannte weitere erschreckende Zahlen: „In Deutschland liegt der Anstieg sogar bei 320 Prozent, in Österreich bei 500 Prozent, in Frankreich bei 1000 Prozent, in den Niederlanden und Polen bei je 820 Prozent.“

„Der Rubikon ist überschritten“, bilanzierte Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister a.D. und Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe. Die Erschütterung der rund 18.000 Juden in Bayern nach dem 7. Oktober sei „fundamental“. Sie hätten Angst, würden bedroht und seien in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Israel werde als „das Böse an sich“ dargestellt, obwohl es die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten sei. „Wir müssen handeln, damit jüdische Menschen aus ihrem gläsernen Käfig herauskönnen.“ Neben der NASAS gebe es auch ein bayerisches Konzept gegen Antisemitismus, das etwa den Austausch mit Israel fördere und eine Webseite für Lehrkräfte mit Handlungsmöglichkeiten anbiete. Die bayerische Justiz dulde nicht, dass Hamas-Symbole und -Slogans verbreitet würden. Seit dem 7. Oktober gebe es bereits 252 Ermittlungsverfahren. Auch gebe es den Vorschlag, den Kampf gegen Antisemitismus als Staatsziel in die Bayerische Verfassung aufzunehmen.

Wissen als Waffe

In der anschließenden Fragerunde der Fraktionen wollte Markus Rinderspacher (SPD) wissen, was die EU-Wahl für den Schutz jüdischen Lebens bedeute. Dr. Gerhard Hopp (CSU) fragte, was man im digitalen Raum tun könne. Gabi Schmidt (Freie Wähler) wollte von den Experten Auskunft, wie man die Gesellschaft weiter sensibilisieren könne. Wie man Probleme bei der polizeilichen Erfassung antisemitischer Straftaten lösen könnte, wollte Cemal Bozoğlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wissen. Zudem kam die Frage auf, wie man berechtigte Kritik an Israels Regierung äußern könne.

In der Tat sei nach der Europawahl bei vielen Deutschen jüdischen Glaubens die Sorge gewachsen, ob man in Deutschland noch sicher leben könne und wie das künftig für die Enkel aussehe, berichtete Dr. Schuster. Dr. Klein meinte, dass sich der Europäische Rat regelmäßig mit Antisemitismus beschäftigen sollte. Zudem wäre ein symbolischer Antrittsbesuch der neuen EU-Kommission im früheren KZ Auschwitz ein wichtiger Schritt.

Katharina von Schnurbein antwortete, es liefen bereits sechs Verfahren gegen Online-Plattformen. Laut Dr. Spaenle werde die „dramatische Wirkung von Tiktok“ insbesondere auf Jugendliche unterschätzt. Zudem sei die Verbreitung antisemtitischer Inhalte auf sozialen Medien zu schnell für eine wirksame Abwehr. Um die Gesellschaft zu sensibilisieren, müsse man laut Dr. Embacher mehr Wissen über Israel und den Palästina-Konflikt in den Schulen vermitteln. Dr. Spaenle schlug einen Lehrstuhl für Israelstudien in Bayern vor: „Kultur und Wissen sind eine Waffe.“

Bisher sind alle antisemitischen Straftaten mit unbekannten Tätern dem rechtsextremen Milieu zugeordnet worden. Dies wird aber laut Spaenle geändert, um ein korrektes Bild zu erhalten. Kritik an Israels Regierung ist nach Ansicht der Experten zulässig, es gebe sie schließlich auch in Israel selbst. Aber wenn es in Stereotype kippe, destabilisierend durch Boykottaufrufe wie bei der Kampagne BDS (wörtlich für "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen") wirke oder Israel dämonisiere, überschreite es eine rote Linie.

/Andreas von Delhaes-Guenther

 

 

 

 

 

 

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