„Stolperdraht reicht nicht mehr aus“

Informationsgespräch des Europaausschusses zur Verteidigungsfähigkeit Europas an der Nordostgrenze

24. September 2024

MÜNCHEN.        Europas Sicherheit hängt von der sogenannten NATO-Nordostflanke ab. Die angespannte Situation in dieser Region aufgrund des russischen Überfalls der Ukraine ist ein wichtiger Grund, dass eine der Reisen des Europaausschusses des Bayerischen Landtags in dieser Legislaturperiode in die baltischen Staaten führt. Politikexpertin Birgit Boeser sowie   Brigadegeneral André Abed erklärten, worauf es bei dem Besuch wirklich ankommt. Auch der Generalkonsul aus Litauen sowie der Honorarkonsul für Estland berichteten über die Stimmung vor Ort. Einig waren sich fast alle, dass die Bedrohungslage ernst sei.

Neun Staaten teilen sich das baltische Meer. „Lange wurde die Region nur als Wirtschaftsraum gesehen“, erklärte Birgit Boeser, Leiterin der Europäischen Akademie Bayern, im Europaausschuss. Doch nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wird die sogenannte Nordostflanke immer wichtiger für die Sicherheit in Europa. Die North Atlantic Treaty Organization, kurz NATO, entwickle sich vom Abschreckungs- hin zum Verteidigungsbündnis. „Stolperdraht an den baltischen Staaten reicht daher nicht mehr aus.“

Große Sorgen bereitet vor allem die Suwalki-Lücke. „Bei einem schnellen Vorstoß könnte Russland den 100 Kilometer langen Grenzabschnitt zwischen Litauen und Polen besetzen – und damit die Versorgung von Estland, Lettland und Litauen abschneiden“, warnt Boeser. Es sei daher kein Zufall, dass mit Andrius Kubilius der nächste EU-Verteidigungsminister wahrscheinlich aus Litauen und mit Kaja Kallas die nächste EU-Vertreterin für auswärtige Angelegenheiten aus Estland stamme. 

Wichtig für die Verteidigung ist laut Boeser die jüngste Bündniserweiterung um Schweden und Finnland. Durch die über 1300 Kilometer lange NATO-Außengrenze sei das baltische Meer zum NATO-Binnenmeer geworden. „Das ist nicht irgendwas.“ Diese Länder hätten wegen der Lage zu Russland und der früheren Bündnisfreiheit ihre Verteidigungskapazitäten zunehmend erhöht. Ebenso seien im Gegensatz zu Deutschland die Bunkeranlagen ausgebaut statt reduziert worden – Finnland will für den Zivilschutz künftig auch den geplanten 100 Kilometer langen FinEst-Tunnel nutzen.

Je näher die Lage zu Russland, desto größer die Angst

„Wenn Russland in der Ukraine nicht gestoppt wird, sind wir als Nächstes dran“, fasst Boeser die Sorge der Anrainerstaaten zusammen. Die Angst hält sie nicht für unbegründet, nachdem Russland die baltischen Staaten als „unsere Provinzen“ bezeichnet hat. Es werde immer die Unterdrückung von russischen Minderheiten als Argument genannt. Der Anteil an der Bevölkerung liegt in Estland beispielsweise bei 22 Prozent. „Der Umgang mit ihnen wurde zwar in der Vergangenheit auch vom Europarat oder dem UN-Menschenrechtsrat kritisiert – aber auch verbessert“. Die Argumentation sei daher vorgeschoben.

Brigadegeneral André Abed, Bevollmächtigter der Brigade Litauen im Kommando Heer, berichtete dem Ausschuss über die konkreten Auswirkungen der „Zeitenwende“. „Die dauerhafte Stationierung einer robusten Brigade in Litauen soll einen Beitrag zur Abschreckung und Beweis zur Bündnistreue sein“, erklärte er. Bis Ende 2027 sollen 4000 Soldatinnen und Soldaten sowie 1000 zivile Mitarbeiter dauerhaft mit ihren Familien in Rudniki beziehungsweise Rukla stationiert sein. 800 Einsatzkräfte würden dafür zusätzlich benötigt – 1800 Bewerbungen gebe es bereits. 

Die Zusammenarbeit vor Ort und die Unterstützung durch Litauen läuft laut Abed sehr gut, auch der Zeitplan könne bisher eingehalten werden – andernfalls gebe es einen Plan B. Besonders lobt der Kommandeur die Infrastruktur. Die Kasernen seien „nigelnagelneu“, zudem gebe es Wohnungen, Apartments, Schulen und Kindergärten. „So eine Situation hätten wir in Deutschland auch gerne.“ Um die Auslandseinsätze bezüglich Mehrarbeit, Unfallentschädigung und Einsatzversorgung auch rechtlich abzudecken, würden bald entsprechende gesetzliche Änderungen in Kraft treten. 

CSU: „Bevölkerung besser über die Arbeit vor Ort informieren“ 

In der anschließenden Fragerunde zeigte sich Dr. Gerhard Hopp (CSU) beeindruckt davon, wie weit die Verlegung der Bundeswehr schon vorangeschritten und wie gut die Unterstützung vor Ort ist. „Es war die richtige Entscheidung des Ausschusses, in die Region zu reisen“, unterstrich er. Denn es sei auch wichtig, dass die litauische Bevölkerung die deutschen Soldatinnen und Soldaten akzeptiere. Der Abgeordnete plädierte dafür, auch die deutsche Bevölkerung besser über die riskante Arbeit der Bundeswehr vor Ort zu informieren. 

Für Ausschusschefin Ulrike Müller (FREIE WÄHLER) hat Europa bei der Verteidigungspolitik „viel zu lange geschlafen“. „Jetzt müssen wir raus aus unserer Komfortzone und die Bedrohungen endlich ernst nehmen.“ Ihre Parteikollegin Gabi Schmidt ergänzte, dass allein die deutsche Unterstützung nicht ausreichen werde. Sie berichtete, wie bei ihren letzten Besuchen in der Region Soldatinnen und Soldaten von älteren Frauen mit Umarmung und Blumen begrüßt worden seien – „weil sie jahrelang Angst vor der russischen Bedrohung hatten“. 

Benjamin Adjei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) begrüßte, dass der Begriff „Zeitenwende“ endlich mit Leben gefüllt werde. „Jetzt ist es wichtig, dass die Veränderung auch bei der Bevölkerung ankommt.“ Die Bedrohungslage werde aktuell noch nicht von allen Menschen ernstgenommen, sagte er mit Blick auf die Landtagswahlen in Ostdeutschland. Dafür sei es auch wichtig, neben Cyberattacken ebenso Propaganda und Desinformation zu bekämpfen. In den baltischen Staaten sei schon viel früher auf diese hybride Kriegsführung reagiert worden. 

Der Abgeordnete Markus Rinderspacher (SPD) beklagte, dass sich nicht alle Parteien in Deutschland hinter den Begriff „Zeitenwende“ stellen würden – nicht nur im Osten Deutschlands. Selbst im Landtag sei bei der Verabschiedung des bayerischen Bundeswehrgesetzes von „Kriegstreiberei“ die Rede gewesen. Die AfD-Fraktion äußerte sich nicht.

„Wir freuen uns auf die deutschen Soldatinnen und Soldaten“

Donatas Kušlys, Generalkonsul der Republik Litauen, sagte, dass die Stationierung der Bundeswehr auch in seinem Land nicht durchweg unumstritten sei. Die Bereitstellung der Infrastruktur koste 800 Millionen Euro. „Die Bevölkerung und die Brigade aber freuen sich“, versicherte er. Da viele mit ihren Familien kämen, entstünde so etwas Neues. Abschließend betonte Kušlys, dass sich baltische Staaten nicht so leicht von Fake News beeinflussen ließen, weil sie schon zu Sowjetzeiten gelernt hätten, sich vollumfänglich zu informieren – zum Beispiel bei Radio Free Europe aus München. 

Der Honorarkonsul der Republik Estland, Andreas Obereder, beklagte die vielen russischen Cyberangriffe auf Europa. „Viele davon kamen über Server in Estland – die mussten wir jetzt abschalten.“ Dabei sei Estland fast vollständig digitalisiert und brauche seine Infrastruktur. Anfang des Jahres soll sogar der russische Geheimdienst nicht nur im Netz, sondern bei einem Angriff auf das Fahrzeug des Innenministers auch vor Ort zugeschlagen haben. Inzwischen würden sogar Kriminelle angeheuert. „Viele Menschen“, erzählt Obereder, „fühlen sich nach der Ukraine an vorderster Front.“

/ David Lohmann

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