Sachverständige nehmen Stellung zur geplanten Änderung des Polizeiaufgabengesetzes

Anhörung im Ausschuss für Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Sport

19. Mai 2021

MÜNCHEN.    Das Polizeiaufgabengesetz war nach seiner Neuauflage 2018 nicht unumstritten, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reichten dagegen Verfassungsklagen ein. Nun beurteilten Rechtswissenschaftler und führende Polizeifachleute im Ausschuss für Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Sport die deswegen korrigierte Fassung des Gesetzes, die im Juli verabschiedet werden soll.

Im Zentrum der Kritik am neuen PAG steht bei seinen Skeptikern das unklare Handlungskriterium der „drohenden Gefahr“, sowie die Tatsachen, dass Menschen zwei Monate lang in präventivem Gewahrsam behalten werden dürfen und dass bei Polizeieinsätzen Bodycams zum Einsatz kommen. Den zwölf vom Landtag geladenen Sachverständigen aus Polizei und Rechtswissenschaft wurde allerdings ein wesentlich längerer Fragenkatalog vorgelegt, den sie auch in ausführlichen Stellungnahmen beantworteten. In der Anhörung im Plenarsaal, geleitet von Dr. Martin Runge (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN), konzentrierte man sich dann aber auf die wesentlichen Punkte. Vor Beginn schickte Runge noch eine Mahnung an die Staatsregierung. Diese hatte eine Broschüre veröffentlicht, in der das neue Polizeiaufgabengesetz (PAG) bereits als gültig genommen wird. „Es wäre nett, wenn man warten würde, bis der Landtag das Gesetz verabschiedet hat“, erinnerte der Grünen-Politiker an die demokratischen Wege der Legislative.

„Man muss nicht austesten, was gerade noch geht“ – so fasste Christoph Degenhart, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Leipzig, seine Kritik an der durch eine Kommission angeregten Neufassung des PAG zusammen. Wie der Großteil der zwölf Experten sah er deutlichen Verbesserungsbedarf. „Schwachpunkte werden nicht beseitigt, es ist schwer zu sagen, wo die Grenze zwischen Sicherheit und Überwachung liegt. Wie sollen die Polizeibeamten im Einsatz die unklaren Unterschiede zwischen drohender und konkreter Gefahr unterscheiden?“ Eben diesen schwer zu eruierenden Unterschied, und überhaupt den schwammigen Fall der „drohenden Gefahr“, der Polizisten dazu berechtigen soll, die Staatsgewalt physisch oder durch Überwachung auszuüben, nahmen auch mehrere andere Experten ins Visier.

Ralf Poscher etwa, der geschäftsführende Direktor in der Abteilung Öffentliches Recht des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg, bemängelte, dass die drohende Gefahr „nicht auf abstrakten Beurteilungen und vagen Einschätzungen beruhen“ dürfe (drohende Gefahr herrscht laut aktuellem PAG, wenn „das Verhalten einer Person oder Vorbereitungshandlungen und andere Indizien“ einen „Angriff von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ erwarten lassen). Dazu meinte Poscher: „Jede Gefahr, auch die drohende Gefahr, muss nach den viel klareren Kriterien der konkreten Gefahr definiert werden. So ist die Verantwortlichkeit stets gesichert. Drohende Gefahr sollte außerdem nur zu weiteren Nachforschungen berechtigen.“

In diesem Sinne äußerten sich auch Mark A. Zöller, Professor für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Markus Möstl, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bayreuth. Zöller lehnte den Begriff „drohende Gefahr“ als „Bärendienst für die Sicherheit“ rundheraus ab, da er rechtlich auf viel zu wackeligen Füßen stehe. Und Möstl sprach sich für eine Neudefinition aus: „Die drohende Gefahr ist ein Grenzfall der konkreten Gefahr. Das Verhältnis muss im PAG präziser gefasst werden.“

Prof. Dr. Thomas Petri, der Bayerische Landesbeauftragte für den Datenschutz, sah im neuen PAG größere Probleme im Gebrauch von zu unbestimmten Begriffen. Identitätsfeststellungen sollen beispielsweise bei „Großveranstaltungen“ erlaubt sein. „Doch was ist eine Großveranstaltung in der Stadt und was ist eine Großveranstaltung auf dem Dorf? Es fehlen Zahlen. In München, Nürnberg und Augsburg wären hier ja ständig großflächige Identitätsfeststellungen möglich, ebenso wie eine automatische Autokennzeichenerfassung. Dies und die Tatsache, dass solche Erhebungen ja meist Verschlusssache sind, der Bürger also gar nicht weiß, dass er erfasst wurde, halte ich für verfassungswidrig."

Ähnliche Bedenken äußerte auch Simon Strohmenger vom Verein Mehr Demokratie e.V. „In Sachen Überwachung sollte eine Liste erstellt werden, wo überall überwacht wird“, forderte er. Als einziger Vertreter der Bürgerseite lehnte auch er die „drohende Gefahr“ als Handlungsgrundlage rundum ab – sie sei ein Pradigmenwechsel weg von der geschätzten Bürgerpolizei hin zum vorausgreifenden Überwachungsstaat.

Auf der anderen Seite gab es auch Fürsprecher für das neue PAG, die aus ihrer Sicht nicht von der Hand zu weisende Argumente vortrugen. „Muss denn immer erst etwas passieren, bevor die Polizei handelt? Diesem Vorwurf entgegnet das neue PAG nun etwas“, sagte etwa Martin Wilhelm, Polizeivizepräsident des Polizeipräsidiums Unterfranken. Er bedauerte, dass das neue Gesetz in seinen Regelungen zu Eigentumsdelikten und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sogar weniger scharf gefasst wurde als vorher, „denn häusliche Gewalt und Einbruch sind häufige Einsätze.“

Thomas Hampel, Polizeipräsident im Polizeipräsidium München, bestätigte, dass ein größerer Handlungsspielraum für die Polizei von den Bürgern erwartet werde. „Drohende Gefahr, das sind ausgesprochene Drohungen gegen womögliche künftige Opfer oder auch Chats, die Straftaten vermuten lassen. Die Polizei muss hier handlungsfähig sein.“ Mit Blick auf das Mittel des Gewahrsams betonte Hampel, dass die Polizei damit schon immer sehr sorgsam und verantwortungsvoll umgegangen sei und belegte dies mit Zahlen aus dem Polizeipräsidium München: „Einen Gewahrsam mit einer Dauer von über einem Monat hatten wir im Jahr 2019 einmal und im Jahr 2020 überhaupt nicht gehabt. Das zeugt auch davon, dass die Diskussion über den sogenannten Ewigkeitsgewahrsam nicht der Realität und der polizeilichen Praxis entspricht.“

Kyrill-Alexander Schwarz, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg hielt das neue PAG einfach grundsätzlich für gelungen. „Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen neueren Entscheidungen den Begriff der drohenden Gefahr übernommen, ohne verfassungsrechtliche Bedenken zu äußern“, verteidigte er die „drohende Gefahr“, hinter der ja immer „an Anhaltspunkte geknüpfte Bewertungen“ stünden. Außerdem habe der Gesetzgeber politische Gestaltungsfreiheit – das neue PAG beinhalte maßvolle Verbesserungen. Auch Markus Möstl verteidigte das Gesetzeswerk. „Das PAG war noch nie verfassungswidrig“, sagte er. „Es verdient, auf größere Akzeptanz zu stoßen.“

Der Appell verhinderte aber nicht die weiteren kritischen Anmerkungen der Experten. Mit dem Thema der fehlenden anwaltlichen Unterstützung im Fall des vorbeugenden Gewahrsams befasste sich etwa Karl Huber, ehemaliger Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und früherer Vorsitzender der Expertenkommission zur Begleitung des neuen PAG. Ein Monat vorbeugender Gewahrsam mit richterlicher Verlängerungsoption soll erlaubt sein. Doch spätestens nach 48 Stunden in der Zelle müsse dem Verdächtigen ein Rechtsbeistand gestellt werden, meint Huber, „und zwar ohne die Option des Verzichts, da sonst so manchem Betroffenen Angst durch den Kostenfaktor gemacht wird.“ Huber merkte auch an, dass im neuen PAG nicht alle Vorschläge der beratenden Expertenkommission übernommen worden seien. „Es wurde etwa der Vorrang der konkreten Gefahr vor der drohenden Gefahr nicht so übernommen, wie von der Kommission formuliert. Es wird spannend, was nun die Gerichte urteilen. Immerhin geht es ja bei den kritischen Punkten um Maßnahmen an Menschen, die keine Straftat begangen haben.“

Judith Hauer, Prorektorin der Hochschule für Polizei in Baden-Württemberg, sah, wie mehrere andere Experten, den Einsatz von Bodycams bei Polizeieinsätzen ohne richterlichen Beschluss als problematisch an. Sie gab aber auch zu denken: „Richter haben meist keine ausreichenden Informationen und Kapazitäten, um hier im Vorfeld Entscheidungen zu treffen. Wenn man die Bodycam nur mit richterlichem Beschluss will, braucht man Manpower für die Justiz!“

Franz Lindner schließlich, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Augsburg, hatte die von Corona traumatisierten Bürger im Blick. „Frühere Gegner des PAG verlangen plötzlich schärfere Gesetze, die die Diskussion um das PAG zum jetzigen Zeitpunkt ist schwierig. Ich könnte mir vorstellen, dass vielleicht eine Kommission aus der Zivilgesellschaft den Prozess begleiten sollte. Auch eine Broschüre, die das Vertrauen stärkt, wäre gut.“ Ähnliche Vorschläge machten auch Judith Hauer und Simon Strohmenger.

Insgesamt brachten neun von zwölf Experten mehrere Kritikpunkte zum angepassten PAG vor und sehen weiteren Änderungsbedarf. „Wenn man nicht ernsthaft etwas ändern will, ist diese Gesetzesrevision sinnlos“, konstatierte Mark A. Zöllner.

Eine Fragerunde der Abgeordneten, die das Gesagte vertiefte, beschloss die Anhörung. Als Nächstes wird im Juni das neue PAG im Innenausschuss diskutiert.

/ Isabel Winklbauer

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