„Ein gutes Fundament für die Sechs- bis Zehnjährigen schaffen“

Bildungs- und Sozialausschuss: Sachverständigenanhörung zur Ganztagsbildung

2. Juni 2022

München. Der Senatssaal im Maximilianeum als Ort der gemeinsamen Anhörung im Bildungs- und im Sozialausschuss war gut besucht. Dort sprachen die Abgeordneten beider Ausschüsse mit Expertinnen und Experten darüber, wie ein qualitativ hochwertiges Ganztagsangebot gesichert werden kann.

70 Prozent aller Schulen in Deutschland befanden sich schon vor zwei Jahren im Ganztagsbetrieb. Die Angebote für Schülerinnen und Schüler am Nachmittag ergänzen und erweitern den Unterricht. Von 2026 an soll nun jedes Grundschulkind einen Anspruch auf Betreuung auch nach der reinen Unterrichtszeit haben. Dieser Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule wird nach Einschätzung von Fachleuten der Entwicklung von Ganztagsschulen einen massiven Schub verleihen. „Die bildungspolitische Debatte geht jetzt los, obwohl ein Großteil der Angebote schon da ist“, sagte Professor Thomas Rauschenbach, emeritierter Direktor und Vorstandsvorsitzender des Deutschen Jugendinstituts (DJI) München in der Diskussion mit den Ausschussmitgliedern. Rauschenbach warnte davor, die Betreuung nach dem Schulunterricht als Zeitvernichtung anzusehen. Vielmehr sieht er im Ganztag Chancen für eigene Ideen und mahnte Bayern ein Ausführungsgesetz auf den Weg zu bringen, denn das Bundesgesetz regele lediglich den zeitlichen Standard.

Vereine in Ganztagsbildung integrieren

Gebundener, offener und kooperativer Ganztag, Mittagsbetreuung und Hort – die Möglichkeiten der Kinderbetreuung und Förderung nach dem Schulunterricht sind zwar verschieden. Insgesamt waren sich die eingeladenen Expertinnen und Experten aus Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen aber recht einig, wie die Ganztagsbildung vorangebracht werden kann. 
Eine zeitnahe Klärung der Rahmenbedingungen fordert auch Stephanie Haan, Referentin für Kinder- und Jugendhilfe der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Landesverband Bayern. Die aktuelle Unklarheit behindere den erforderlichen Ausbau der Schulen durch die Kommunen. Hinter dem Rechtsanspruch verberge sich aber mehr, als nur ausreichend Betreuungsplätze zu schaffen. Es gehe darum, die Entwicklung und Erziehung von Kindern zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu fördern sowie Familien zu entlasten. Eine qualitativ hochwertige Ganztagsbildung müsse Kindern einen geschützten Rahmen mit verlässlichen Erwachsenen bieten, in dem sie lernen, aber auch Anerkennung und Wertschätzung erfahren, Freiräume für Bewegung, Spiel und Kreativität, Freunde und Rückzugsmöglichkeiten haben sowie sich an Belangen, die sie betreffen, beteiligen können. Ebenso wie Rauschenbach sprach sich auch Haan dafür aus, Vereine in das Ganztagskonzept zu integrieren, so dass die Kinder beispielsweise zum Fußballtraining gehen könnten und anschließend wieder zurück in die Schule.

Den positiven Zusammenhang von Bewegung und lernen hob auch Nils Neuber hervor, Professor für Bildung und Unterricht im Sport am Institut für Sportwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Jedes dritte Angebot in deutschen Ganztagsschulen sei Sport. Bildungspotential biete sich im motorischen, gesundheitlichen, kognitiven und auch sozialen Bereich. Bei der gezielten Förderung der Kinder sei allerdings noch Luft nach oben. Neuber plädierte für eine Kooperation beispielsweise mit Jugendverbänden und Sportvereinen. Besonders wichtig sei dabei eine systematische und professionelle Moderation auf Augenhöhe ebenso wie gut qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Neuber, der auch Sprecher des Forschungsverbundes Kinder- und Jugendsport NRW ist, begrüßte den dabei auftauchenden Mix an Professionen aus Erzieherinnen, Übungsleitern, Sozialarbeiterinnen und Ehrenamtlichen.

Blick aus der Praxis

Von ihren praktischen Erfahrungen berichteten zwei Grundschulrektoren. Kerstin Friedrich, Schulleiterin der Martin-Grundschule in Forchheim wies daraufhin, dass der Betreuungsbedarf immer größer werde. „Wir bilden die Lebenswelt der Kinder, wir sind quasi ihre Zweitfamilie“, erklärte Friedrich. Die Rektorin schlug eine Verzahnungsstunde vor, in der sich Lehrkräfte und Betreuer austauschen. Ihr Tipp an die Politikerinnen und Politiker: „Überlegen Sie sich einfach, was Sie sich für ihre eigenen Kinder wünschen würden.“

Dr. Michael Hoderlein-Rein, Schulleiter der Grundschule Berg am Laim in München berichtete von der Kooperativen Ganztagsbildung, einem Modellprojekt der Stadt München zusammen mit dem Kultusministerium. Das Besondere daran ist die hohe Flexibilität für die Eltern, die im Unterschied zur herkömmlichen Mittagsbetreuung oder dem Hort, Abholzeiten oder Betreuungstage individuell buchen können, täglich bis 18 Uhr, auch in den Ferien. „Die Kinder gehen gern in die Schule und sehen den Unterricht nicht im Gegensatz zur Zeit danach“, sagte der Rektor.

Um den Ganztagsbetrieb zu organisieren arbeiten viele Schulen mit außerschulischen Partnern. Als Vertreterin eines solchen außerschulischen Partners machte Katrin Ikeni-Wali sich dafür stark, die aktuellen Angebote bei den Kommunen bekannter zu machen. Die Geschäftsführerin und Vorstandsvorsitzende der Bildungswerkstatt in München sorgt mit ihrem Verein für Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung, Lernförderung und Freizeitangebote. Zudem schlug sie vor, die Muttersprache der Schulkinder als erste Fremdsprache anzuerkennen. Der Unterricht sei digital möglich, zudem würden die Mütter als Sprachkundige aufgewertet.
Auch Pippa Gschwind, wissenschaftliche Referentin im Referat Bildungsforschung am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) in München sieht in der Ganztagsbildung eine Chance. Gschwind evaluiert das Modell der Kooperativen Ganztagsbildung. Coronabedingt ist die Datenerhebung allerdings noch nicht abgeschlossen.

„Ganztagsbildung schafft keiner ganz allein“

Für die Mitglieder im Ausschuss für Bildung und Kultus sowie im Ausschuss für Arbeit und Soziales, Jugend und Familie gab es somit zahlreiche Anknüpfungspunkte für Fragen und Ergänzungen. Neben Erkundigungen nach nötiger Weiterbildung und der Vermittlung von Kompetenzen bereits im Studium, wollte Gabriele Triebel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wissen, welche Angebote es für Kinder in der Ferienzeit gibt. Die Vorsitzende des Sozialausschusses, Doris Rauscher (SPD), forderte, ein „gutes Fundament für die Sechs- bis Zehnjährigen zu schaffen“ und erkundigte sich nach praktischen Problemen wegen der geteilten Zuständigkeit von Schule und Ganztagsbildung, was nach Darstellung der Fachleute unproblematisch funktioniert.

Der stellvertretende Vorsitzende des Bildungsausschusses Tobias Gotthardt von den FREIEN WÄHLERN unterstrich seine Perspektive als Finanzpolitiker und forderte deutlich mehr Geld vom Bund als die zugesagten 1,3 Milliarden Euro jährlich. Sein Fraktionskollege Johann Häusler machte auf den Stadt-Land-Unterschied bei dem Bedarf nach Betreuung aufmerksam und sprach sich gegen eine Akademisierung des Betreuungspersonals aus. Ob die Vielzahl an einzelnen Programmen nötig ist, wollte der liberale Abgeordnete Matthias Fischbach von den Fachleuten wissen, die empfahlen, funktionierende Modelle weiterlaufen zu lassen.

Der CSU-Abgeordnete Professor Gerhard Waschler fragte nach niedrigschwelligen realisierbaren Vorschlägen der Sachverständigen, um Hemmnisse auszuräumen. Die einhellige Antwort der Expertinnen und Experten: Mehr Zeit für alle an der Ganztagsbildung beteiligten Kräfte.

Rauschenbach, der auch wissenschaftlicher Leiter des Forschungsverbundes DJI/TU Dortmund ist, verwies auf die vom DJI mitverantwortete Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) 2017/18, wonach mehr Wert auf die pädagogische Schulentwicklung und die multiprofessionelle Zusammenarbeit gelegt werden sollte. Das Fazit des Professors: „Ganztagsbildung, das schafft keiner ganz alleine! Alle Akteure müssen lernen, zusammenzuarbeiten.“ Der Professor zitierte das afrikanische Sprichwort: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es das ganze Dorf.“

/ Miriam Zerbel

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