„Kinder brauchen Kinder“
- Die Teilnehmer des Fachgesprächs „Kindeswohl in Corona-Zeiten“ im Sozialausschuss waren sich einig, dass bei der schrittweisen Öffnung die Angst vor Infektionen die Betreuung und Erziehung der Kinder nicht beeinträchtigen dürfe.
- In Krisenzeiten leiden vor allem Familien, die auch sonst benachteiligt sind. Diese zu identifizieren und stärker zu unterstützen habe Priorität.
- Kinder brauchen soziale Kontakte, deshalb ist die schrittweise Öffnung richtig.
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Familien hätten mehr Wertschätzung vom Staat verdient, da Kinder wochenlang nur als „regelungsbedürftiges Objekt“ wahrgenommen wurden, kritisierte der stellvertretende Vorsitzende des Kinderschutzbundes Landesverband Bayern e.V., Jens Tönjes, die Politik zu Beginn des Fachgesprächs im Sozialausschuss. Schulen und Kindertagesstätten seien nicht bloß „Verwahranstalten“, sondern Orte des sozialen Lernens. Deshalb sei es wichtig, Kommunikationswege für Kinder und Jugendliche zu schaffen, wie die Einrichtung von Sorgentelefonen und Online-Chats. Aber auch Jugendzentren müssten unter entsprechenden Auflagen wieder öffnen. „Junge Menschen brauchen einen sicheren Ort. Wenn sie den zuhause nicht haben, verlieren wir sie sonst“, gab er zu Bedenken.
Hilfsbedürftige identifizieren
Dr. Nina Sellerer, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, machte darauf aufmerksam, dass ein entscheidendes Problem in der Krise darin liege, Familien überhaupt erst ausfindig zu machen, in denen es keine „Elternkompetenz“ gebe. Diese müssten gezielt – beispielsweise von Betreuern in den Kindertagesstätten – angesprochen werden und aktiv eine Notbetreuung angeboten bekommen. „Ich appelliere daher ausdrücklich an die Kitas, aktiv zu entscheiden, welche Kinder eine besondere Betreuung benötigen“, sagte sie.
„Die Belastung wird zunehmen“
Ihr zweiter Appel richtete sich ebenso an die Eltern, Kinder in der Krise angstfrei zu erziehen und eine neue Normalität zu schaffen. Prof. Dr. Volker Mall, TU München, kbo-Klinikzentrum, stellte fest, dass vor allem Familien betroffen seien, die auch sonst im Abseits stehen würden und benachteiligt seien. So habe das Klinikzentrum beispielsweise die Telefon-Sprechzeiten für Familien mit Schreibabys auf die komplette Woche ausgeweitet, zumal fünfmal so viele Anrufe wie in normalen Zeiten bei den Mitarbeitern eingingen. Seine Botschaft lautete: „Die Belastung für Eltern wird in den kommenden Monaten weiter zunehmen, während die Kompensation erheblich abnimmt. Deshalb müssen wir Telefonseelsorge und auch die Zusammenarbeit mit den Jugendämtern weiterverfolgen und verstärkt Notfallsprechstunden einrichten.“
Notbetreuung sicherstellen
Thomas Huber (CSU, stellvertretender Ausschussvorsitzender), machte deutlich, dass fraktionsübergreifender Konsens darüber herrsche, dass entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Das zeigten beispielsweise die Corona-Sonderregelungen sowie die Ausweitung des Kurzarbeitergeldes. „Unsere Aufgabe besteht jetzt vor allem darin, Familien ohne Elternkompetenz stärker in den Blick zu nehmen“, kündigte er an. Mall verwies auch auf Risikogruppen, wie zum Beispiel Eltern mit autistischen Kindern. Der Grünen-Abgeordnete Johannes Becher kritisierte, dass bei der Notbetreuung als Abgrenzungskriterium nicht der Beruf der Eltern gelten dürfe, sondern die jeweilige Situation der Familie beurteilt werden müsse.
Vorteil: Online-Lernmethoden
Siegmund Hammel, Leiter des Jugendamtes im Landkreis Eichstätt, konnte auch Vorteile in der Krise ausmachen. „Bestimmte Online-Lernmethoden motivieren einige Jugendliche deutlich mehr als klassische Präsenz im Unterricht“, sagte er. Wichtig sei, differenziert auf die Situation von Familien zu schauen, da sie sehr unterschiedlich mit der Krise umgingen. Die Betreuung müsse daran angepasst werden.
Engere Vernetzung
Sylvia Stierstorfer (CSU) betonte, wie wichtig eine noch engere Vernetzung und Ergänzung der bestehenden Strukturen sei. Mall erläuterte dazu die Zusammenarbeit mit dem Sozialministerium. „Wir entwickeln derzeit ein Konzept, das in den Kinderpraxen ansetzt. Sie sind die einzigen Einrichtungen, in denen Ärzte Kinder im ersten Lebensjahr mehrfach sehen“, erklärte er. Stellten sie einen besonderen Betreuungsbedarf fest, könnten sie diesen direkt an die entsprechenden Partner weitergeben, wie beispielsweise das Jugendamt. Doris Rauscher (SPD, Ausschussvorsitzende) gab zu Bedenken, dass sich die Mitarbeiter in den Betreuungseinrichtungen zum Teil im Stich gelassen und als Spielball fühlten. Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll, Direktorin des Staatsinstitut für Frühpädagogik bekräftigte, dass Pädagogen noch mehr Aufmerksamkeit auf Kinder aus Familien lenken müssten, in denen kein Deutsch gesprochen werde. Nur so könne das Sprachdefizit nach langer Abwesenheit aufgefangen werden.
Appel an Kommunen
Auch Tönjes appellierte an lokale Bündnisse in den Kommunen, um Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Die Beteiligten müssten dabei langfristig und vor allem unbürokratisch vorgehen, wie personelle und räumliche Ressourcen verteilt werden könnten. Die Verantwortung für den Erfolg läge aber vor allem bei den Landes- und Kommunalpolitikern. „Es ist die Aufgabe der Politik, dieses unbürokratische Vorhaben als politischen Willen zu formulieren und in die Fläche zu bringen. Nur dann merken die Menschen, dass das auch politisch gewollt ist“, sagte er.
Mehr Monitoring und Impfungen
Die Forderung von Julika Sandt (FDP) zu einem Monitoring zur psychischen Gesundheit mit Fokus auf die Auswirkungen von Isolation unterstützte Mall. Am Klinikum seien dazu Arbeitsgruppen gegründet worden, denn vor allem zu Kindern, die jünger als14 Jahre seien, gebe es aktuell noch zu wenige Studien. Die Sorge von Katrin Ebner-Steiner (AfD) welche Auswirkungen die Maskenpflicht auf Säuglinge während der Geburt habe, konnte er entkräften. Auch wenn es eine Belastung für die Mutter sei, werde das Kind dadurch nicht traumatisiert.
Johann Häusler (Freie Wähler) fragte abschließend, ob die Schulschließung überhaupt Sinn gemacht haben. Mall bestätigte, dass nur wenige Experten abstritten, dass diese Maßnahme erheblich dazu beigetragen habe, die Infektionsrate und die Zahl der Todesfälle gering zu halten. Im Vergleich zum schwedischen Modell seien alle Zahlen zum aktuellen Zeitpunkt besser. Er äußerte zudem die Hoffnung, dass die Impfbereitschaft in der Gesellschaft generell steige.
Anja Schuchardt