Gewaltschutz in bayerischen Flüchtlingsunterkünften
Anhörung im Ausschuss für Verfassung, Recht, Parlamentsfragen und Integration
24. November 2022
MÜNCHEN. Keine Privatsphäre, mangelhafte Hygiene und Perspektivlosigkeit sind ein Nährboden für Gewalt in den bayerischen Flüchtlingsunterkünften. Das haben die Sachverständigen den Abgeordneten im Verfassungsausschuss verdeutlicht. Zur Sprache kam dabei aber auch, was getan wird und werden kann.
Ein Gewaltschutzkonzept in den Gemeinschaftsunterkünften gebe es zwar, umgesetzt werde es jedoch nicht, sagte Anna Frölich, Fachanwältin für Migrationsrecht. Das Sicherheitspersonal in den Einrichtungen müsse geschult werden, auch im Hinblick auf besonders vulnerable Gruppen, so ihr Rat.
Allein die Lebensbedingungen in den Unterkünften seien strukturelle psychische Gewalt und eine „permanente Kindeswohlgefährdung“, sagte Stephanie Hinum, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und spezialisiert auf die Behandlung und Begutachtung traumatisierter Geflüchteter.
In den meisten Unterkünften gebe es kein Gewaltschutzkonzept und falls doch, sei es nicht bekannt, sagte Sabine Lindau, Vorständin für Integration und Familie beim Diakonischen Werk Bayern. Auch die bauliche Beschaffenheit der Unterkünfte biete zu wenig Schutz vor Gewalt, etwa weil Türen sich nicht abschließen ließen.
Mit Sarah Namala kam auch eine weibliche Geflüchtete selbst zu Wort. Als einzige junge Frau habe sie in einer Unterkunft mit sieben Männern zusammengelebt, erzählte sie. Die seien an ihre Tür gekommen, permanent habe sie sich unsicher gefühlt. Einen Sicherheitsdienst habe es nicht gegeben.
Welche Wege das Gesetz kennt, um bei Gewalt einzuschreiten und den Menschen zu helfen, erklärte Ulrike Sachenbacher, Richterin am Amtsgericht München und Kompetenzpartnerin Kinderschutz im Oberlandesgerichtsbezirk München. Eine Möglichkeit ist die Inobhutnahme: Behörden können Kinder aus den Familien nehmen. Die Voraussetzung ist, dass ihnen die Kindeswohlgefährdung auch gemeldet wird. Dass das funktionieren kann, machte die Richterin am Beispiel einer 19 Jahre alten Mutter deutlich, deren drei Jungen nach Übergriffen aus der Familie genommen wurden. Nachdem der gewalttätige Ehemann der Frau abgeschoben wurde, holte sie einen Schulabschluss nach, einer der Jungen hat es aufs Gymnasium geschafft und möchte Abitur machen.
Stefano Scala leitet in München ein Projekt für vulnerable Geflüchtete: Immer wieder erfuhren er und sein Team, dass auch die Security in den Einrichtungen Gewalttaten entweder nicht verhindert habe oder selbst Übergriffe verübt habe.
Johannes Wegschaider, Gewaltschutzkoordinator bei der Regierung von Mittelfranken ist da, um Gewalt in den Unterkünften schon vor dem Entstehen zu verhindern. In Bayern gebe es in jedem Regierungsbezirk einen Gewaltschutzkoordinator, das sei mehr als in den anderen Bundesländern. betonte er. Und dass die Konzepte zum Gewaltschutz nicht umgesetzt würden, könne er nicht bestätigen.
Hannah Zanker vom Projekt SoulTalk, das Psychosoziale Beratung für Geflüchtete in der ANKER-Einrichtung Unterfranken anbietet, betonte, wie wichtig Beratung in der Muttersprache sei. Wie das gehe, zeige ihr Projekt: Dort unterstützen Peer-Beraterinnen, die selbst einen Fluchthintergrund haben, die Menschen, die so oft schneller Vertrauen fassen könnten.
In der Aussprache mit den Abgeordneten sagte Tobias Reiß (CSU), es sei nicht überraschend, dass so wenig Fälle beim Familiengericht landen und fragte, wie Strukturen verbessert werden könnten. Alexander Hold (FREIE WÄHLER) wollte wissen, wie sich Gewaltschutzkonzepte skalieren lassen könnten. Gülseren Demirel (Bündnis 90/DIE GRÜNEN) erkundigte sich bei Gewaltschutzkoordinator Johannes Wegschaider, welche Entscheidungskompetenzen er hat. Horst Arnold (SPD) fragte, was von der Annahme zu halten sei, dass Hilfe für traumatisierte Menschen mehr Menschen nach Deutschland ziehe, also einen Pull-Effekt erzeuge, wenngleich das ein deplatziertes Wort sei. Der FDP-Abgeordnete Martin Hagen (FDP) fragte nach konkreten Zahlen zu Vorfällen.
Oft fehlten Informationen über rechtliche Möglichkeiten, so Richterin Sachenbacher. Wie viele Inobhutnahmen es gibt, hänge aber auch von den zur Verfügung stehenden Plätze ab. Entscheidungskompetenz habe er nicht, doch er könne Einfluss auf Entscheidungen nehmen und die Zusammenarbeit sei gut, antwortete Wegschaider. In Zukunft könnte man möglicherweise über einen Gewaltschutzmonitor, ein Pilotprojekt, jeden Vorfall in den Einrichtungen erfassen. Den Bedarf nach einer strukturierten Erfassung habe man erkannt, hieß es dazu auch aus dem Innenministerium. Ein Pull-Effekt sei „absurd“, so Stephanie Hinum. 90 Prozent der Menschen, die unter einer Traumafolgestörung leiden, seien sich dessen nicht bewusst. In ihren Herkunftsländern gebe es oft kein Wissen darüber und außerdem große Scham.
Die Ausschussvorsitzende Petra Guttenberger (CSU) bezeichnete den offenen Austausch und die sachliche und fundierte Diskussion als „hochkarätig“ und dankte den Sachverständigen am Ende der sehr gut besuchten Anhörung für ihre Expertise.
/ Anna Schmid