„Hunger ist Mord“ – Diskussion zur Ausstellung „Leben auf der Flucht“

Donnerstag, 10. März 2016
– Von Katja Helmö und Zoran Gojic

Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren so viele Menschen auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Elend wie derzeit. Auch in Bayern sind Flüchtlinge flächendeckend verteilt, das Thema beschäftigt intensiv den Bayerischen Landtag – aktuell auch im Rahmen der Ausstellung „Leben auf der Flucht“. Landtagspräsidentin Barbara Stamm und der Integrationsbeauftragte der Staatsregierung Martin Neumeyer präsentierten gemeinsam dieses Multimedia-Projekt im Maximilianeum. Begleitend zur Ausstellungseröffnung diskutierten Experten mit Bundesminister Dr. Gerd Müller darüber, wie Fluchtursachen überwunden werden können, und wie es gelingen kann, Menschen vor Ort eine Perspektive zu geben. Teilnehmer des Podiumsgesprächs waren Erzbischof Dr. Stefan Heße, Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz, sowie Pater Peter Balleis SJ, ehemaliger Internationaler Direktor des Flüchtlingsdienstes der Jesuiten.

Informationen über Hintergründe und Fakten zur Migration nach Europa sind wichtig, schließlich geht es darum, einen Konsens zu finden, wie Fluchtursachen bekämpft und Menschen zum Dasein bewegt werden können, umriss Landtagspräsidentin Barbara Stamm das Ziel der Veranstaltung. Mitinitiator und Integrationsbeauftragter Martin Neumeyer, der im März 2015 zusammen mit der Landtagspräsidentin ein Flüchtlingslager nahe der türkisch-syrischen Grenze besucht hat und die Verhältnisse auch anderer Camps kennt, gab zu bedenken, dass hierzulande die humanitäre Flüchtlingskatastrophe meist vom warmen Wohnzimmer aus verfolgt werde. Dabei würden im nordgriechischen Idomeni derzeit Zehntausende bei Kälte, Nässe und Schlamm ausharren.

Gesichter, die sich hinter den abstrakten Flüchtlingszahlen verbergen, zeigte anschließend Mirco Keilberth. Der Nordafrika-Korrespondent hat zusammen mit Oliver Rolofs (siehe Biografien unten) die Ausstellung „Leben auf der Flucht“ initiiert und kuratiert. Das Multimedia-Projekt erzählt die Geschichten von Menschen, die mit der Herausforderung der Migration konfrontiert sind: engagierte Bürgerinnen und Bürger, Grenzpolizisten, Schleuser, die mit illegaler Migration Geld verdienen, und Menschen, die sich auf den Weg in ein besseres Leben gemacht haben. Ein internationales Projektteam, bestehend aus Fotografen, Journalisten und politischen Beratern, hat dazu Bilder, Video- und Audioausschnitte sowie Reportagetexte zusammengestellt.

„Wir auf der Sonnenseite in Deutschland tragen eine ganz besondere Verantwortung für die Schwachen, die auf der Schattenseite des Planeten leben“, erklärte dazu Dr. Gerd Müller. Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zeigte sich davon überzeugt, dass die Ursachen für Hunger und Ungerechtigkeit bekämpft werden können. Um den Menschen in den Krisenregionen Perspektiven aufzuzeigen, forderte er einen „Marshall-Plan“ und eine Umfinanzierung des EU-Haushalts sowie eine andere Dimension des Engagements der Industrieländer – etwa durch vielfältige Kooperationen im schulischen und kommunalen Bereich, durch Ausbildungsinitiativen des deutschen Handwerks, durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Unterstützung beim Wiederaufbau. Deutschland gehe dabei, nicht zuletzt finanziell, voran. Dr. Gerd Müller warb eindringlich darum, Afrika als „Partner-Kontinent Europas“ zu begreifen, räumte aber auch ein: „Wir stehen dabei vor einer Generationenaufgabe“.

Im folgenden Podiumsgespräch mit Erzbischof Dr. Stefan Heße und Pater Peter Balleis SJ einigte man sich schnell auf eine der wirksamsten Möglichkeiten, Fluchtursachen zu bekämpfen: Bildung. Wichtig sei es, ganz konkret vorzugehen und beispielsweise in sozialen Medien Aufklärungsarbeit zu leisten. Es würden zum Teil völlig verzerrte Vorstellungen vom Leben in Deutschland verbreitet, dem müsse man etwas entgegensetzen, erklärte Müller. „Wichtig ist mir aber, und da bin ich einer Meinung mit meiner Bundeskanzlerin: Wir müssen die Frauen stärken. Unser Fokus liegt auf der Gleichberechtigung. Denn Frauen sind oft diejenigen, die vor Ort etwas bewegen können, das belegen alle bekannten Studien“, erklärte Müller.

„Mangel an Bildung ist eine Konfliktursache

Pater Peter Balleis, bis vor kurzem Direktor des Flüchtlingsdienstes der Jesuiten, bekräftigte die Idee auf Bildung zu setzen: „Mangel an Bildung ist eine Konfliktursache. Wir müssen unser Wissen teilen. Mit unserer neuen Online-Universität wollen wir auch kritisches Denken global schulen. Wenn junge Menschen aus allen Teilen der Welt miteinander lernen, fördert das den Austausch und das Verständnis“, sagte Balleis. Erzbischof Stefan Heße, Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz, rief dazu auf, die Maßnahmen zu koordinieren: „Niemand kann das Problem alleine lösen; Alle, die helfen wollen, müssen sich vernetzen“, sagte Heße. Aufbauen könne man dabei auf einem Netzwerk der Religionen, fügte Bundesminister Müller an. „80 Prozent der Menschen auf diesem Planeten glauben an einen Gott oder übergeordnete Mächte – das kann man nutzen. Denn alle Religionen basieren auf gemeinsamen Wertefundamenten“, erklärte Müller. Man müsse aber über den Dialog hinaus denken, befand Pater Balleis. „Wir müssen vom Dialog zur Diapraxis, zur Zusammenarbeit. Das verbindet Menschen und hilft, Konflikte zu verhindern.“

„Hunger ist Mord

Am Ende der Diskussion forderte der Bundesminister bei den Flüchtlingen, die bereits in Deutschland seien, auf Bildung zu setzen und das von Anfang an: „Jeder müsste sofort in Deutsch unterrichtet werden und die jungen Menschen sollten sofort die Gelegenheit erhalten, eine Ausbildung zu absolvieren. Selbst wenn sie nicht dauerhaft in Deutschland bleiben können, nehmen sie dann etwas mit in ihre Heimat: Wissen, Können und eine Perspektive. Damit haben sie die Chance auf eine Arbeit und darauf, ihre Familie zu ernähren. Armut und Hunger werden eine Fluchtursache bleiben. Und deswegen plädiere ich dafür, unbedingt alles zu tun, um Menschen in Krisenregionen und Flüchtlingslagern mit Nahrung zu versorgen. Hunger ist Mord“, schloss Müller seinen Appell.

Ausstellungsdauer bis 18. März 2016. Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag von 9.00 bis 16.00 Uhr, Freitag von 9.00 bis 13.00 Uhr sowie sonntags im Rahmen der zum Sonntagscafe angebotenen Hausführungen um 13 und 15 Uhr. Adresse: Bayerischer Landtag, Maximilianeum, Max-Planck-Str. 1, 81675 München U4/U5 Max-Weber-Platz, Straßenbahn 19 Haltestelle Maximilianeum. Der Eintritt ist frei.

Initiatoren der Ausstellung

„Leben auf der Flucht“

Mirco Keilberth ist Nordafrika-Korrespondent für verschiedene deutsche Medien. Seit 2011 liegt sein Fokus auf Libyen und Tunesien – Staaten in unmittelbarer Nachbarschaft Europas, die von Migration und Extremismus besonders betroffen sind. Mirco Keilberth bereiste mehrmals die Schmugglerrouten in der Sahara und traf Waffen- und Menschenhändler am Salavador-Pass im Dreiländereck Algerien, Libyen und dem Niger. Für den Arte Film „Flucht nach Europa“ wurde der Journalist und Filmemacher für den Grimme Preis nominiert.
„Die Grenzen Europas liegen in der Sahara, das Mittelmeer sollte endlich wieder die Kulturen verbinden, nicht trennen“, sagte ihm der Kommandeur der Grenzschutz-Milizen im Süden Libyens. Mirco Keilberth ist der Überzeugung, dass sich Europa mit den neu entstandenen lokalen Strukturen in den „entstaatlichten“ Staaten wie Libyen und dem Niger proaktiv auseinandersetzen muss. Das durch den Machtkampf entstandene Vakuum hat der Islamische Staat für sich genutzt und breitet sich auch auf den Migrationsrouten nach Norden aus.


Oliver Joachim Rolofs ist Pressesprecher und Leiter Kommunikation der Münchner Sicherheitskonferenz sowie freiberuflicher Kommunikationsberater. Als außen- und sicherheitspolitischer Experte bereist er häufig Krisenregionen, um sich direkt vor Ort ein Bild von der Lage zu machen und mögliche Lösungswege zur Krisen und Konfliktprävention zu ermitteln. Im letzten Jahr bereiste er mehrmals die Balkan- und Mittelmeerfluchtroute und musste feststellen, dass Europa mit einer reinen Symptombekämpfung der Flüchtlingskrise zum Scheitern verurteilt ist: Wenn Europa künftig nicht zum Spielball von Instabilitätsfaktoren, Schleppern und Terroristen werden will, muss es nach Rolofs Überzeugung endlich Geschlossenheit zeigen und sich viel stärker als bislang mit einer vorausschauenden Fluchtursachenbekämpfung weit vor den EU-Außengrenzen beschäftigen. Die Liste
der Fluchtursachenbekämpfung ist lang: Krisen und Kriegen, Hunger und Armut, Korruption und schlechte Regierungsführung, der Klimawandel und die Ausbeutung der Meere, – sie zwingt das wohlhabende Europa zum Handeln. Die Bilder der Ausstellung „Auf der Flucht“ sollen dabei neue Impulse für eine nachhaltige Fluchtursachenbekämpfung setzen.

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Weiterführende Informationen

Sendetermin in ARD-alpha

Die Veranstaltung mit über 350 Gästen wurde aufgezeichnet. Der Beitrag dazu wird am Samstag, 19. März 2016, von ARD-alpha im Rahmen von „Denkzeit“ um 22.30 Uhr ausgestrahlt.

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