Die Ukraine zwischen West und Ost

Dienstag, 11.07.2017


MÜNCHEN.          Geschichte kann eine Waffe sein – das gab der ukrainische Botschafter Andrij Jaroslawowytsch Melnyk zu bedenken, als er den Vortragsabend „Die Ukraine zwischen West und Ost“ gemeinsam mit Landtagspräsidentin Barbara Stamm eröffnete. Diese hatte rund 70 Gäste in die Bibliothek des Hauses geladen, um die Geschichte der Ukraine zwei Stunden lang in die richtigen Hände zu legen: Von dem renommierten Historiker Andreas Kappeler hörten die Zuschauer in einem Vortrag, welch eigenständige Politik und Kultur der Staat zwischen Polen und Russland eigentlich seit Jahrhunderten besitzt.


„In der Ukraine geht es nicht um einen Bürgerkrieg“, stellte Botschafter Melnyk gleich zu Beginn klar, „sondern um eine militärische Intervention Russlands im Osten des Landes. In diesem Krieg wird Geschichte als Waffe geführt, der Gegner will sie stehlen und vereinnahmen. Leider fallen diese Versuche auch oft auf fruchtbaren Boden, auch hier in Deutschland, wo das Wissen über die Ukraine noch ausbaufähig ist.“


Bereits zuvor in ihrer Begrüßung an die Gäste – darunter der ukrainische Generalkonsul Vadim Kostiuk und die Vertreter der Landtagsfraktionen – hatte Barbara Stamm offen von Krieg in der Ukraine gesprochen, und davon, dass die Lage der Menschen in den betroffenen Gebieten unerträglich sei. „Zum Glück gibt es für sie seit Juni mit der neuen Visa-Freiheit neue Perspektiven“, sagte sie, „deshalb ist es gut, dass wir uns auf den Weg in den Dialog machen.“ Diesen Weg beschreitet der Landtag schon länger: Erst vor Kurzem unternahmen Barbara Stamm und Ministerpräsident Horst Seehofer eine Reise in die Ukraine, die Landtagspräsidentin traf sich außerdem mit ukrainischen Aktivistinnen und sucht mit Botschafter Andrij Melnyk immer wieder das Gespräch. Darüber hinaus war das Präsidium des Bayerischen Landtags im November 2015 zu Gast in Kiew und in Charkiw.


Gehört die Ukraine zu Europa? Auf diese zentrale Frage des Abends lenkte Martin Schulze Wessel, Professor für die Geschichte Ost- und Südeuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität, die Aufmerksamkeit der Zuhörer. Als Vorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission sprach Wessel ein Vorwort zum Vortrag von Andreas Kappeler. Er bemerkte: „Die Ukraine war im Zweiten Weltkrieg stark von deutscher Besatzung betroffen, es gab Massaker. Schon deshalb haben wir eine besondere Verantwortung, uns mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.“


Ob die Ukraine zu Europa gehört, klärte schließlich Andreas Kappeler, Professor emeritus für Osteuropäische Geschichte der Universitäten Köln und Wien, auf eingängige, spannende Art. „Die Ukraine liegt innerhalb des geografischen Europas“, stellte er zunächst fest, und: „Das Land wurde viereinhalb Jahrhunderte von Polen geprägt, aber nur zweieinhalb Jahrhunderte von Russland.“ In der Folge erläuterte er innerhalb von fünf Thesen die polnischen Einflüsse als wesentlichen Grund für die Hinwendung der Ukraine zum Westen. Bereits bevor Peter der Große im 17. Jahrhundert Russland nach Europa hin öffnete, fungierte die Ukraine als westöstlicher Kanal zwischen Polen und Russland. Zwischen Polen und der Ukraine herrschten lange Zeit dynastische Beziehungen. Doch auch die Emigration polnischer Juden in die Ukraine, in der älteren wie jüngeren Geschichte, sei als wichtiger westlicher Einfluss zu gewichten, so Kappeler.


Erst seit Mitte des 18. Jahrhundert habe der Schatten Russlands über dem Schwarzmeerstaat gelegen. Was in gewissem Maße verständlich sei, denn mit Russland verbindet die Ukraine eine Sprachverwandtschaft sowie das orthodoxe Christentum. Die Eliten wurden „russifiziert“, die Ukrainer akzeptierten sich selbst als „Klein-Russen“. Bis 1991 der Kalte Krieg beendet war. Damals wurde die Ukraine endlich wieder ein eigenständiger Staat. Wieder, weil es keineswegs das erste Mal ist: Bereits 1918 gab es einen unabhängigen Nationalstaat, der zwar nicht lange Bestand hatte, dessen Insignien aber übernommen wurden und heute auch die moderne Ukraine repräsentieren.


Die wichtigsten Punkte nannte Kappeler zuletzt. „Mit der Revolution des Euromajdan 2013 hat sich die Ukraine für den Anschluss an die Europäische Union entschieden“, sagte er. Auch wenn in Sachen Korruption und Nationalismus noch Handlungsbedarf bestehe, so folge die Ukraine doch klar sichtbar westlichen Werten. „Die Ukraine hat heute eine parlamentarische Demokratie mit freien Wahlen, sie hat Pressefreiheit und eine aktive Zivilgesellschaft“, fasste der Historiker zusammen.


Damit das geballte Wissen von der Landtagsbibliothek ein noch breiteres Publikum erreichte, zeichnete der Bayerische Rundfunk die Vorträge für die Sendereihe „Denkzeit“ auf ARD-alpha auf. Als Sendetermin ist der 12. August um 22.30 Uhr anvisiert. So erfüllte der Ukraine-Abend einen echten Bildungsauftrag. /red.
 

Randspalte

Seitenanfang