Ein Jahr nach dem Münchner Amoklauf - Podiumsdiskussion "Angstraum Social Media"

Von Isabel Winklbauer

Anlässlich des Jahrestags des Amoklaufs am Olympia-Einkaufszentrum lud die Stiftung München zur Podiumsdiskussion in den Landtag. Sind Messenger-Dienste, Twitter und Facebook in Katastrophensituationen eine Gefahr für die innere Sicherheit? So lautete die Frage, die Landtagsabgeordnete Claudia Stamm als Moderatorin der Abendveranstaltung an die Runde stellte. Im Rahmen der Diskussion leuchteten die anwesenden Experten spannende Nebenaspekte der Polizeiarbeit am 22. Juli 2016 aus.

„Die Rolle der Sozialen Medien bei Katastrophenereignissen muss diskutiert werden, vorsätzliche Falschmeldungen eingeschränkt werden“, stellten in ihren Begrüßungen an die rund 100 Zuschauer im Senatssaal des Maximilianeums sowohl der Landtagsabgeordnete Prof. Dr. Peter Paul Gantzer, Mitglied im Innenausschuss, als auch Anselm Bilgri, Vorsitzender der Stiftung München, fest. Ganze 73 Phantomtatorte wurden der Polizei gemeldet, nachdem der Münchner David S. an einem Freitagnachmittag neun Menschen getötet hatte! Überall vermeinten damals verängstigte Münchner, Schüsse und Verletzte gesehen zu haben – eine extreme Belastung für die Ressourcen der Polizei, die alles zu verifizieren hatte. Eine andere zweifelhafte Rolle der Sozialen Medien am Unglückstag kritisierte Claudia Stamm, Landtagsabgeordnete und Mitglied des Kuratoriums der Stiftung München: Politikerkollegen hätten Twitter und Co. sogleich genutzt, um Forderungen zu stellen. Spekulationen und abstrusen Debatten waren nach der Gewalttat also Tür und Tor geöffnet, was auch ein Kurzfilm verdeutlichte, den die Zuschauer vor Diskussionsbeginn sahen: Angst und Panikreaktionen in der Stadt, angetrieben durch das Internet, stellten die Beamten vor ein echtes Überprüfungsproblem.

In der von Regisseur Matthias Kessler moderierten Diskussion kam zunächst Marcus da Gloria Martins zu Wort, Pressesprecher der Polizei München, dem mehrere Anwesende noch einmal ausdrücklich für die gute Arbeit der Polizei an dem Tag dankten. „Ich glaube nicht, dass WhatsApp eine tickende Zeitbombe ist“, sagte da Gloria Martins. „Das Ganze hat mit Medienkompetenz zu tun.“ So habe in der ersten Stunde nach dem Amoklauf der Messenger-Dienst den Menschen vor allem gedient, um einander Hilfe und Sicherheit zu geben. Erst gegen 19 Uhr habe die Angst Blüten getrieben, von Phantomschießereien bis hin zu verschwommenen Fake-Bildern aus Afrika, die angeblich die Situation am OEZ zeigten. Jedoch gab da Gloria Martins auch zu bedenken, dass die Polizei am 22. Juli 2016 ja nicht Twittermeldungen nachging, sondern Anrufen unter der 110 – am Anfang aller Falschmeldungen standen immer noch klassische, mündliche Telefonanrufe von Bürgern in Panik. Einen Shutdown von Facebook und Co. hält der Polizist und Medienexperte, dem alle gerne zuhörten, deshalb für unangebracht. Zu sehr würden dadurch Hilfeleistungen und außerdem die Grundrechte eingeschränkt. „Die sozialen Medien werden von Vielen, und zwar nicht nur Jungen, nur nicht verantwortungsvoll genutzt“, schloss er.

Die Sozialpsychologin Michaela Pfundmair, Professorin an der Ludwig-Maximilian-Universität München, sowie die Kriminologin und Psychologin Ursula Gasch aus Tübingen erhellten anschließend mit ihrer hervorragenden Sachkenntnis die psychologische Seite der Online-Panikreaktion: Der intuitive Glaube an Schreckensszenarien gehört zur Grundausstattung des Menschen, erläuterte Pfundmair, was andererseits laut Gasch die sowieso schon belasteten Polizisten als Mensch in die schwierige Lage versetzt, nicht nur für tatsächliche Geschehnisse geradestehen zu müssen, sondern womöglich auch noch für Fehler, die es ohne WhatsApp und Twitter gar nicht gäbe. Eine mögliche Lösung gab Dieter Frey vor, Professor für Sozialpsychologie an der LMU München: „Man muss die Leute kritischer machen, als Sender wie als Empfänger von Nachrichten“, forderte er. „Das ist die Aufgabe der Schulen und Elternhäuser. Auch die Sensibilität für Mobbing muss steigen.“ Letzteres war immerhin das Motiv des Attentäters vom OEZ.

„Den komplexen Bedrohungen der Zukunft können wir jedenfalls nur interdisziplinär begegnen“, schloss Brigadegeneral a.D. Johann Berger, ehemaliger Kommandeur im Landeskommando Bayern der Bundeswehr. „Es herrscht eine neue Welt-Unordnung, in der sich die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Bundeswehr bereits in Übungen gut bewährt hat. Die Synergien zwischen den Ministerien sollten enger werden.“

Die abschließende Publikumsrunde bewies dann noch einmal, was sich auf dem Podium schon angedeutet hatte: Die sozialen Medien will niemand missen, wegen der Hilfe, die sie im Ernstfall bieten. Es handle sich eher um einen „Potenzialraum Social Media“, der mit mehr Wissen anzuwenden sei, verteidigten mehrere Gäste WhatsApp und Co.

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