Der demokratische Lackmustest: Wie stehe ich zum Nationalsozialismus?

Landtagspräsidentin Ilse Aigner spricht auf der Gedenkfeier zur Befreiung des KZ-Außenlagers Kaufering bei Landsberg

Kaufering, 30. April 2019 - Eine lange, befahrbare Rampe führt unter die Erdoberfläche in die beklemmende, gigantische Bunkeranlage. Einst von den Nazis ab 1944 errichtet - als bombensichere Flugzeugfabrik - ist sie heute Teil eines militärischen Depots der Welfen-Kaserne.

Beim Bau dieser Bunker starben hier bis Kriegsende mehr als 6000 Menschen - unter grausamsten Umständen. Sie waren Zwangsarbeiter - Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau.

Mit viel Engagement halten Offiziere und Feldwebeldienstgrade der Bundeswehr das Gedenken an die Opfer wach und haben am Ort des Geschehens einen Erinnerungsort eingerichtet. Vor 74 Jahren, am 27. April 1945, wurden die überlebenden Häftlinge von der US-Armee befreit.

Auf der heutigen Gedenkveranstaltung sprachen Max Volpert (der als 13-jähriger Häftling nach Kaufering kam und das Grauen als Zwangsarbeiter überlebte), Landsbergs Oberbürgermeister Mathias Neuner, Dr. Erika Tesar (Stiftung Bayerische Gedenkstätten), Oberstleutnant Thomas Sandbein (Standortältester) sowie Kauferings 1. Bürgermeisterin Bärbel Wagner-Bühler.


Hier dokumentieren wir die Rede von Landtagspräsidentin Ilse Aigner anlässlich der Gedenkfeier zur Befreiung des Außenlagers Landsberg-Kaufering:

Ilse Aigner: „Wir sind hier in diesem Bunker umgeben von Leichen der Häftlinge des KZ-Außenlager-Komplexes in Landsberg/Kaufering.
Es ist schwer begreiflich. Schrecklich.
Und dennoch ist es wahr: Wir sind umgeben von den Leichen der Häftlinge.
 
Sie sind hier gestorben und begraben im Beton dieses Bunkers.
Häftlinge haben große Teile dieses Bunkers gebaut. Unter unmenschlichen Umständen. Nahezu verhungert. Erfroren. Zu Tode erschöpft.

Und es ist von Zeitzeugen belegt: Eine ganze Reihe dieser Häftlinge sind hineingestürzt in den flüssigen Beton. Etwa, als sie die riesigen Schläuche bändigen wollten, mit denen der Beton eingefüllt wurde. Einen deutschen Aufseher hat es auch erwischt: Da war die Aufregung groß. Ansonsten hat man die Leichname mit Beton bedeckt und damit einen Mantel des Schweigens über dieses Verbrechen gelegt.

Aber wir, meine Damen und Herren, wir schweigen nicht. Es war himmelschreiendes Unrecht. Schweigen - diesen Gefallen können wir den Tätern nicht tun: Wir gedenken der Opfer.
 
Wir halten die Grausamkeit im Bewusstsein.
Um der Würde der Opfer willen.
Und um unserer Zukunft willen.
Weil uns die Vergangenheit mahnt, zu welchen Verbrechen Menschen fähig sind.
Wozu eine Ideologie, die von Hass und Hetze geprägt war, befähigt hat: Sie hat Millionen Menschen in die Vernichtung getrieben!
 
Ich bin Karl Freller und seinen Mitstreitern in der Stiftung Bayerische Gedenkstätten außerordentlich dankbar. Sie haben vor Jahren gesagt: Für die Gedenkstunden gehen wir auch raus an die „Tatorte“. Dorthin, wo die Verbrechen begangen worden sind. Wo man die Dimension des Unfassbaren wenigstens annähernd spürbar und begreiflich machen kann.

Das ist ein ganz wesentlicher Punkt für das Erinnern und für das Verstehen – damit auch der Brückenschlag in Gegenwart und Zukunft folgen kann. Und so wollen wir es auch heute halten. Wir erinnern uns an das Leid. Und trotz der Singularität dieses Verbrechens ziehen wir die Konsequenzen für das „hier und heute“.
 
Auch ich begrüße Sie alle sehr herzlich zum Gedenktag anlässlich der Befreiung des KZ-Außenlagers Landsberg/Kaufering durch die US-Amerikaner.

II. Der Außenlagerkomplex
 
Meine Damen und Herren,

die Vertreterinnen und Vertreter all der Opfergruppen aus deutschen Konzentrationslagern haben klar Stellung bezogen: Für sie sind die ehemaligen Lager heute „steinerne Zeugen“. Sie haben unsere Aufmerksamkeit verdient.
 
Es konzentriert sich im öffentlichen Bewusstsein viel auf Auschwitz, das pars pro toto für die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten steht. Es ist gut, dass wir mit Begrifflichkeiten arbeiten, die der Dimension des Unrechts gerecht werden und über die ganze Welt hinaus Verbreitung finden. Zugleich ist es eine Verkürzung, die wir alle hier ergänzt wissen wollen um das, was damals der Wirklichkeit entsprach. Ich meine das dichte Netz von Lagern, das die Täter über Europa, aber eben auch über Deutschland gelegt haben.

Es gab so viele Konzentrationslager und vor allem KZ-Außenlager, die letztlich nur einem Zweck dienten: Vernichtung durch Arbeit. Ein dichtes Netz von Lagern nicht nur im Osten, sondern auch in den Regionen, mitten in der Heimat.

Und deshalb ist es wichtig, dass wir uns auch den Außenlagern wie hier in Landsberg/Kaufering zuwenden. Lange haben sie nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die ihnen gebührt!
 
Denn mit den Lagern ist das Schicksal von Menschen verbunden.
Mehr als 30.000 Menschen waren hier inhaftiert.
Mehr als 6.000 Menschen sind hier gestorben.
Sie wurden aus allen Teilen Europas hierher deportiert.
Die Arbeitsbedingungen waren mörderisch.
 
Die Luftangriffe der Alliierten hatten Deutschland längst erreicht. Die Lufthoheit war verloren. Deshalb sollte die Rüstungsmaschinerie – wie hier die Flugzeugfertigung – unter die Erde und hinter dicke Bunkerwände verlagert werden. Man muss sich die Größenordnung des Projektes vor Augen halten: 90.000 Menschen sollten mal in den Landsberger Produktionsstätten arbeiten. Zur Orientierung: Landsberg zählte damals 10.000 Einwohner. Die Pläne benötigten riesige Mengen an materiellen und menschlichen Ressourcen. Zehn Monate vor dem Ende des Krieges: Der Größenwahnsinn kannte keine Grenzen!
 
Berichte von Zeitzeugen lassen uns das Erlebte wenigstens ansatzweise nachvollziehen. Solly Garnor, Häftling hier im Einsatz, schreibt in seinen Erinnerungen:

„Der Lärm schwoll an, als wir in eine große Lichtung einbogen, die in grellem Flutlicht lag. Die Straße verschwand in einem riesigen Schacht, über dem sich ein gigantisches Zementgewölbe aufrichtete, gespickt mit Stützstangen, so dass es aussah wie ein monströser Igel.“ Und ja, wie soll es auf die Häftlinge auch anders gewirkt haben als der Schlund, der einen zu verschlingen drohte?
 
Meine Damen und Herren,

die Nationalsozialisten wussten genau, was sie taten. Und so haben sie auch hier versucht, Spuren zu verwischen und Zeugen zu beseitigen. Die Luftwaffe – die deutsche Luftwaffe – sollte Landsberg und Mühldorf bombardieren.

Das war der Befehl des Chefs es Reichssicherheitshauptamtes Kaltenbrunner.
Das ging nicht mehr. Dann sollten alle jüdischen Häftlinge Landsbergs im KZ Dachau liquidiert werden.

Todesmärsche waren die Folge, oft ohne örtliches Ziel, mit dem Ziel der Vernichtung.
Bei der Befreiung des Lagers haben sich den US-Amerikanern furchtbare Bilder geboten. Hoffnung machten einzig und allein die wenigen Überlebenden.
 
Liebe Überlebende und liebe Angehörige – die seit vielen Jahren aus dem In- und Ausland an diesen Ort kommen, um zu gedenken: Wir stehen fassungslos vor dieser Dimension des Unrechts. Aber Hoffnung machen die Überlebenden.
Eigentlich sollte heute auch Abba Naor zu uns sprechen. Leider kann er aus gesundheitlichen Gründen nicht bei uns sein. Wir wünschen ihm alles erdenklich Gute! Aber ich möchte an dieser Stelle an seine bewegenden Worte bei der Gedenkstunde für die Opfer im Bayerischen Landtag erinnern. Er sagte:

„Es gelang mir, vom Hass zur Liebe zu kommen.
Ich habe gelernt, die Menschen zu lieben.“
 
Diese menschliche Größe ist eine Ermutigung, die man mit Worten gar nicht genug würdigen kann. Dafür sind wir unendlich dankbar.
 
Und ich bin auch all denen dankbar, die beim Erinnern und bei der Wissensvermittlung hier vor Ort Verantwortung übernehmen:

• der Bundeswehr, die das Gedenken mit ihrer Militärgeschichtlichen Sammlung und eigens dafür zuständigen Mitarbeitern pflegt und die diese Veranstaltung vorbereitet hat. Ich danke ganz besonders Oberstleutnant Sandlein, Hauptmann Bechtold sowie Oberstleutnant Roletschek: Sie haben den Gedenkakt so erst möglich gemacht!
 
Ich danke:
• den vielen ehrenamtlich engagierten Menschen im Landkreis, die besonders in der Stadt Landsberg und in der Marktgemeinde Kaufering dafür sorgen, dass die Geschichte dieser beiden Orte aufgearbeitet wird. Auch Vereine wie „Gedenken in Kaufering“ und die engagierten Lehrer und Historiker haben Dank verdient!
 
Ich danke:
• der Stadt Landsberg, der Marktgemeinde Kaufering, den umliegenden Gemeinden wie auch dem Landkreis – welche die Projekte personell und finanziell unterstützen.
 
Ich danke:
• dem Verein Stiftung Europäische Holocaustgedenkstätte, der das ehemalige KZ-Außenlager VII vor dem Verfall gerettet hat und das Gelände der Öffentlichkeit zugänglich macht.
• Und der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, die als Dachorganisation der beiden KZ-Gedenkstätten Dachau und Flossenbürg die Erinnerungs- und Bildungsarbeit an diesen Orten sicherstellt und mit Projekten sowie Veranstaltungen auf dieses Thema aufmerksam macht.
 
Sie alle begleiten, moderieren und gestalten unsere Erinnerungskultur. Wir können sicher manches noch besser machen und das werden wir auch tun. Aber grundsätzlich will ich sagen: Ich bin stolz auf unsere Erinnerungskultur!
 
III. Warum erinnern?
 
Meine Damen und Herren,
wir erinnern uns im 74sten Jahr nach der Befreiung – nach der Befreiung des KZ-Außenlagerkomplexes.
Im 74sten Jahr nach der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten.
Und manch einer stellt das Erinnern bewusst in Frage:
Warum noch? Warum immer wieder?
 
Das beantworte ich gerne.
Ich erinnere an den Gedenktag zu Ehren der Opfer des Nationalsozialismus bei uns, im Bayerischen Landtag. Da haben große Teile einer Fraktion den Saal verlassen.
Noch während Charlotte Knobloch, die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, sprach: Sie sprach als Zeugin und als Opfer.

Teile dieser Fraktion haben ihr das Zuhören verweigert. Ja, mehr noch: Sie haben an dem Tag, der ausdrücklich den Opfern gewidmet ist, versucht, sich selbst als Opfer darzustellen. Und tatsächlich wurde ihnen damit auch Aufmerksamkeit zu teil.
Noch während dieser ansonsten sehr würdevollen Veranstaltung lief die Nachricht vom Auszug über die Ticker.
 
Weil hier bewusst mit den Gesetzen der Mediendemokratie gespielt wurde.
Und natürlich ist es für die Medien auch ein Spagat: Einerseits zu berichten, was geschehen ist. Und andererseits sich nicht instrumentalisieren zu lassen.
Medienschelte wäre hier aber fehl am Platz.

Vielmehr muss auf der Basis der Berichterstattung der klare Schluss folgen:
Dieser Auszug war absolut unwürdig. Die dahinterstehende Rechnung hinsichtlich der Berichterstattung ist vielleicht aufgegangen. Aber was die Resonanz in der breiten Bevölkerung betrifft, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land lehnt so etwas ganz entschieden ab. Wer den Opfern des Nationalsozialismus den Rücken zukehrt, der wendet sich auch ab von Anstand und Menschlichkeit!
 
Wir haben das im Parlament gesehen:
Es ist am Ende auch der demokratische Lackmustest:
Wie stehe ich zum Nationalsozialismus?
 
Meine Damen und Herren,
zugleich warne ich davor, diese geplante Provokation als parlamentarisches Theater abzutun – ohne Bedeutung, ohne Folgen.
 
Denn tatsächlich erhalte ich, seitdem ich mir den Erhalt der demokratischen Kultur besonders auf die Fahnen geschrieben habe, eine ganze Reihe von Schreiben Ewiggestriger.
 
Es ist schlicht unfassbar, was einem da entgegenschlägt:
• an Leugnung historischer Fakten,
• an untauglichen Versuchen von Relativierungen oder
• an schlichter Dummheit.
 
In der Post dominieren zwei Genres, wenn Sie mir den Ausdruck erlauben.
Es gibt Postkarten, anonym, plump und diffamierend.
Und es gibt Briefe, detailliert ausgearbeitet, mit Fußnoten und Anhang.
Und da stehen Sätze wie – Zitat:
 
„Was mich ungeheuer aufregt und empört, ist die totale Verteufelung dieser neuen Partei […] Das, was die Juden im Nazi-Reich waren, das sind heute im „demokratischen Rechtsstaat Deutschland“ die AfD-Leute, ihre Anhänger und Wähler.“ – Zitat Ende.
 
Ich erinnere an die totale Entrechtung, die die Juden haben erleiden müssen.
Ich erinnere an den Raub sämtlichen Besitzes, den die Juden haben erleiden müssen.
Und ich erinnere an den millionenfachen Mord, der Menschen eines Glaubens beinahe ausgelöscht hätte. Mitsamt ihrer totalen Entwürdigung. Damit verbietet sich jeglicher Vergleich!
 
Leider tritt Judenhass gegenwärtig immer deutlicher zu tage. Oft ist er unmissverständlich, unverschämt direkt und damit überdeutlich. Er kommt von Einheimischen wie auch von Zugewanderten!
 
Die Sozialen Netzwerke im Internetzeitalter laden ein zu extremen oder gar extremistischen Äußerungen. Der Schutzmantel der Anonymität macht die wahren Täter unsichtbar. So ein Segen die Netzwerke für die freie, schrankenlose Meinungsfreiheit sind, so können sie doch auch ein Fluch sein angesichts all der hasserfüllten Umtriebe.

Und wenn jetzt einer fragt: Warum diese Gedenkstunde?
Dann sage ich ganz klar: Weil es notwendig ist!
 
Besonders perfide sind die indirekten Angriffe.
Dieses vorurteilsbelastete Denken.
Ich teile die Ansicht von Ludwig Spaenle, dem Antisemitismus-Beauftragten der bayerischen Staatsregierung: Da hilft vor allem Bildung. Der Antisemitismusbeauftragte hat Vorschläge gemacht. Zu Lehrplänen, zu Lehrbüchern, zur Lehrerausbildung. Diese Vorschläge sind ernst zu nehmen.
 
Ich meine, wir müssen zweierlei tun:
 
Erstens: Die Erinnerung lebendig halten an das Menschheitsverbrechen der Schoah, um den Opfern ihre Würde zurückzugeben und Ähnliches – und sei es auch nur in Ansätzen – zu verhindern.
 
Und zweitens müssen wir den Blick weiten, wenn wir über das Judentum sprechen.
Menschen jüdischen Glaubens waren und sind nicht nur Opfer, sie waren und sind fester Bestandteil deutschen und europäischen Lebens. Sie sind prägender Teil unserer Vielfalt.
 
Widmen wir jüdischem Leben in Deutschland mehr Aufmerksamkeit – dann können wir auch aufräumen mit all den Vorurteilen, die da draußen kursieren.
Das, meine Damen und Herren, ist meine feste Überzeugung!

IV. Demokraten stehen zusammen
 
Meine Damen und Herren,
wahre Demokraten können Geschichtsvergessenheit, Geschichtsrelativierung, Geschichtsleugnung nicht akzeptieren. Wahre Demokraten haben Lehren gezogen aus der Geschichte.
 
Nun stehen wir vor der nächsten Wahl: Europa ist Garant für Frieden und Freiheit, für Wohlstand, für Sicherheit und Stabilität. Das Jahrhundertprojekt der europäischen Einigung hat dem Kontinent die beständigste Friedensphase seiner Geschichte beschert. Nach einer Phase des totalen Krieges und der geplanten Vernichtung. Dieser Ort und das Leid zehntausender Menschen in den ehemaligen KZ-Außenlagern mahnen uns: Zu viel ist selbstverständlich geworden - werfen wir die Verdienste Europas nicht leichtfertig weg!

V. Freiheit verteidigen
 
Meine Damen und Herren,
Freiheit muss verteidigt werden.
Wir gedenken heute der Befreiung der KZ Außenlager in Landsberg und Kaufering.
Wir haben das große Glück, dass uns Zeitzeugen in den vergangenen Jahrzehnten teilhaben lassen konnten an ihren schlimmen Erfahrungen und dem dunkelsten Teil deutscher Geschichte. Und wir haben die große Verantwortung, die „stummen Zeugen“ wie diese Tatorte auch in Zukunft zum Sprechen zu bringen.
 
Denn gerade die junge Generation muss wissen, was droht, wenn die wichtigsten Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verraten werden.
Das Leid der Opfer bleibt. Es ist zementiert.“

 

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