Der Landtag im Gespräch: Lebende Legenden zur Lage der Nation

Herausragende Polit-Profis mit Erfahrung und Abstand zum täglichen politischen Geschäft, nehmen sich Zeit für eine aktuelle Analyse der politischen Ereignisse

27. November 2024

MÜNCHEN.    Jenseits von Sensationen und Skandalen befassten sich die vier "lebenden Legenden" - Dr. Theo Waigel, Renate Schmidt, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Margarete Bause - mit grundsätzlichen Problemen unserer Gesellschaft. In einer kurzweiligen Diskussion, gespickt mit einigen Anekdoten aus ihrem reichen Erfahrungsschatz, analysierten die altgedienten Politikerinnen und der Politiker, nicht nur, woran es aktuell fehlt, sondern sie suchten auch nach Lösungen.

Wieder einmal lockte die Veranstaltung "Der Landtag im Gespräch" so viele Interessierte an, dass es im Senatssaal des Maximilianeums kaum noch einen freien Sitzplatz gab. Dazu trug auch der Prominenten-Faktor der vier Podiumsgäste bei. Alle vier sind a.D., also außer Dienst, ausgeschieden aus Parteiämtern und ohne gestaltende Parteifunktion - und das war auch so gewollt. Denn es ging, angesichts von Kriegen und Krisen, um eine Analyse der Gesellschaft, ohne den Druck vor allem der neuen Medien und dem Bemühen um Klicks.

"Lebende Legenden" 

Auf dem Podium saßen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Margarete Bause (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Dr. Theo Waigel (CSU) und Renate Schmidt (SPD). In ihrer Begrüßung machte Landtagspräsidentin Ilse Aigner deutlich, sie hoffe auf offene, ehrliche und freie Worte, weil die Podiumsgäste keine aktuellen politischen Ambitionen mehr hegten. Wer zudem so viel Erfahrung mitbringe, im politischen Alltag schon viel gesehen habe und zudem politische Analyse und politische Meinung auf den Punkt bringen könne, sei dafür besonders geeignet. 

Lebende Legenden sind laut Definition Personen, denen schon zu Lebezeiten eine besondere Lebensgeschichte und zeitüberdauernde Bedeutung zuerkannt wird und die als Inspiration oder Vorbild dienen. Die Landtagspräsidentin sprach denn auch von den Podiumsgästen als Menschen, "die in der Politik ganz ganz viel gestaltet haben. Sie haben eine unglaubliche politische Erfahrung, die sie alle mitbringen, sie sind wirklich in der ersten Reihe gewesen, sowohl bei den Parteien als auch in exekutiven Ämtern bis hin zur Bundestagsvizepräsidentin". Aigner sagte aber auch, sie sei gespannt inwiefern noch heute Trennlinien zwischen den politischen Konkurrenten spürbar seien. 

Lage der Nation

Als "hochdynamisch" bezeichnete die Landtagspräsidentin die Lage der Nation und verwies auf das Scheitern der Ampelregierung und das Wahlergebnis der US-Präsidentschaftswahl. Mangelndes Wirtschaftswachstum, Inflation und Migration seien nicht nur in den USA bestimmende Themen. In Amerika habe der Wunsch nach einer durchgreifenden politischen Lösung der Probleme letztendlich zum Wahlsieg Trumps geführt. 

Die Aufgabe, die "Koryphäen zu bändigen", wie die Landtagspräsidentin formulierte, übernahm mit Professor Heinrich Oberreuter, unter anderem Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing a. D., ein Urgestein der Politikwissenschaft und der politischen Bildung. Oberreuter stellte fest: "Die Demokratie geht international zurück, auch in Europa, auch in Deutschland." Und er verband das mit der Frage, ob die Bemühungen der anwesenden Politiker vergeblich gewesen seien. 

Mehr Demokratie erklären

Dem widersprach Dr. Theo Waigel Bundesminister a.D. Was damals passiert sei, wirke heute noch. Keiner wünsche sich die Teilung Deutschlands zurück. Zur Erfolgsgeschichte gehörte laut Waigel auch, Deutschland in der NATO zu halten sowie der Beitritt fast aller der mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU. 
Es seien allerdings auch Fehler passiert, indem Sicherheitsbemühungen danach nicht mehr ausreichend hoch bewertet wurden. Oder den Menschen in der DDR 1989 nicht ausreichend die ökonomische Wahrheit erklärt wurde. So habe die Produktivität im Osten nur bei 28 Prozent im Vergleich zum Westen gelegen. Wenn man die Arbeitsplätze in der DDR erhalten hätte, dann hätten die Menschen mit einem Drittel des West-Lohns auskommen müssen. 

"Politischer Kampf und Auseinandersetzung ist notwendig, aber es ist auch notwendig zum Kompromiss zu kommen." Sein Appell: "Wir müssen das Wesen der Demokratie wieder stärker erklären." Beispielsweise, dass sich Demokratien auch ökonomisch besser entwickelten als jede andere Staatsform.

Wertebasis der Demokratie betonen

Auf die Frage, warum die Gesellschaft Schwierigkeiten mit der Wertschätzung der Demokratie hat, antwortete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Bundesministerin a.D., das sei nicht monokausal zu erklären. Die Wertebasis der Demokratie, wie Grundrechte, Gewaltenteilung, unabhängige Justiz müssten wieder mehr betont werden. Eine Demokratie zeichne sich eben nicht nur dadurch aus, dass man wählen könne. Einer der Vorteile der Demokratie sei, zwischen unterschiedlichen Interessen auszugleichen und abzuwägen. "Das Auseinanderdriften nach Auseinandersetzung ist heute sehr viel größer als wir das nach 1990 hatten."

Auch Margarete Bause, Landtagsabgeordnete sowie Bundestagsabgeordnete a.D., sehnt sich nicht zurück in die 1980er Jahre. Sie stellte mit Blick auf die Frauenfeindlichkeit eine Bewusstseinsveränderung zum Positiven fest. An einem Punkt wünschte sie sich jedoch die Uhr zurückdrehen zu können. "Wir haben zu viel Zeit vertan, richtig zu handeln für den Klimaschutz." Bause wehrte sich gegen die Zuordnung, Klimaschutz sei ein grünes Thema. Es sei ein gesamtgesellschaftliches Thema.

Aktiv gegen Angriffe wehren

Einen Wettbewerb zwischen Ökonomie und Ökologie, zwischen Sozialem und Umweltschutz lehnt Renate Schmidt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a.D. sowie Bundesministerin a.D., ab. "Das Soziale gehört unbedingt zum Ökonomischen und Ökologischen dazu", so Schmidt. "Wenn die Ungleichheit immer größer wird, wenn sich immer mehr Menschen abgehängt fühlen, dann verzweifeln die an der Staatsform. Wir müssen schauen, dass deren Sorgen wahrgenommen werden." Sie forderte zudem von Politikern eine andere Prioritätensetzung. An erster Stelle müsse es um das Land und seine Menschen gehen und erst an zweiter Stelle um die Parteiinteressen. Dazu gehöre auch Kompromissfähigkeit und das Eingeständnis, das hin und wieder auch der andere recht habe. Um die Demokratie zu schützen und zu verteidigen, rief Schmidt dazu auf, sich aktiv gegen Angriffe von Extremisten zu wehren. 

Professor Oberreuter verwies auf den Wandel des Kommunikationsprozesses sowie den Vormarsch der sozialen Medien und fragte, wieso wir so wenig tun können, wenn die Grundsätze der Demokratie herausgefordert werden.

Waigel knöpfte sich daraufhin die ökonomische Herausforderung vor. Er verwies auf historische Beispiele, wie die Situation Mitte der 1960er Jahre, während der ersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, als es gelungen sei, völlig unvereinbare Personen verschiedener Parteien wie Franz-Josef Strauß (CSU) und Karl Schiller (SPD), bekannt als "Plisch" und "Plum", zu einer handlungsfähigen Regierung zusammenzuschweißen. "Ich habe in den neuneinhalb Jahren, als ich Finanzminister war, zu allen großen, wichtigen Entscheidungen die SPD benötigt." Er spielte damit an, auf die Wirtschafts- und Währungsunion oder die Einführung des Euro, für die jeweils eine zwei Drittel Mehrheit nötig war. Waigel verriet auch, dass er freundschaftliche Beziehungen zu Helmut Schmidt pflegte. Seine Forderung: Man müsse sagen, was die Feinde der Demokratie anstellen würden und welche negativen Auswirkungen das für jeden Bürger nach sich ziehen würde.

Parteiübergreifend agieren

Daraufhin stellte Schmidt die Frage, wie man die Leute erreichen könne. Fernsehen und Print erreichten vor allem junge Leute nicht mehr. Leutheusser-Schnarrenberger schlug vor, sich über Parteigrenzen hinweg zusammenzutun und gemeinsam in den sozialen Medien zu agieren, gegen Lügen und Falschinformationen. Bause setzt als Gegengewicht auf eine aktive, mündige Gesellschaft und verwies auf die Massendemonstrationen nach dem Treffen rechter Politiker in Potsdam vor einem Jahr.

Mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl im Februar 2025 forderte Waigel einen fairen Wahlkampf. "Um die Sache streiten, aber auch so streiten, dass man sich nachher wieder in die Augen sehen kann." Eine Forderung, der sich die drei anderen Polit-Legenden anschlossen. 

In der Reihe "Der Landtag im Gespräch ..." äußern sich Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens zu Themen der Zeit.

Weitere Bilder der Veranstaltung in den → Pressefotos.

/ Miriam Zerbel 

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