Der Landtag im Gespräch... über die schwierige Frage nach einer „Leitkultur“

Dienstag, 28. Juni 2016

– Von Katja Helmö –

Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Die Ankunft Tausender Flüchtlinge und Migranten in Deutschland befeuert aktuell die Debatten über die eigene Identität im Zeitalter der Globalisierung; Und sie wirft Fragen auf, ob es eine „Leitkultur“ in unserer Gesellschaft überhaupt gibt oder geben sollte. In seiner Reihe „Der Landtag im Gespräch...“ stellte sich das bayerische Parlament auf Initiative von Landtagspräsidentin Barbara Stamm diesem kontrovers diskutierten Thema. Fachleute und interessante Gäste beschrieben dazu ihre Erfahrungen und Blickwinkel, was wichtig ist, damit Integration nicht scheitert, sondern gelingt: Simple Stereotypisierungen zu überwinden, sei wichtig, waren sich alle Teilnehmer des Gesprächs einig. Außerdem bedarf es dafür eines gültigen Orientierungsrahmens, wie Landtagspräsident a. D. Alois Glück und Prof. Dr. Irene Götz übereinstimmend feststellten.

Alois Glück, Landtagspräsident a. D. und Präsident des Zentralkomitees der Katholiken a. D., hielt zum Auftakt der Veranstaltung ein Impulsreferat. Darin nannte er die eigene Standortbestimmung als eine zentrale Voraussetzung für gelingende Integration: „Wir können von Zuwanderern, von Flüchtlingen und Migranten nur erwarten und verlangen, was wir für uns selbst tatsächlich als wichtig anerkennen und leben“, erklärte er. Glück wertete die aktuelle Diskussion über „Leitkultur“ und Leitwerte als „heilsame Herausforderung und Aufgabe“, denn sie müsse „mit einer Selbstvergewisserung beginnen“: „Was ist uns tatsächlich wichtig? Was meinen wir konkret mit `christlichen Werten´, mit `europäischen Werten´ oder mit `christlichem Abendland´? Welche Bedeutung haben diese Werte in unserer Gesellschaft und für unser Zusammenleben?“ Es sei „unsere Bringschuld“, diese Leitworte zu konkretisieren und mit Leben zu füllen, schließlich, so Glück, bilde eigene Unsicherheit nur ein unsicheres Fundament für die Aufgabe Integration.

Glück forderte zudem eine fundierte und erklärende Debatte über den Islam und über das Zusammenleben mit den Muslimen in unserem Land. Diese dürften nicht unter einen Generalverdacht gestellt werden: „Mit großer Sorge sehe ich, wie Muslime aufgrund der gegenwärtigen Debatte „über den Islam“ verletzt werden, sich verdächtigt fühlen, entmutigt werden und sich zurückziehen“, sagte Glück. Er appellierte, wechselweise den Gedankenaustausch zu suchen mit Menschen, die den Weg der Integration gegangen sind bzw. mit Menschen, die Flüchtlinge und Zuwanderer auf diesem Weg begleitet haben. „Nicht übereinander reden, sondern miteinander“, lautete sein Plädoyer.

Es gibt nicht „den“ Islam

Das Podiumsgespräch bot dafür im Anschluss eine gute Gelegenheit: Gönül Yerli, die heute Vizedirektorin des Islamischen Forums Penzberg ist, und Okba Kerdiea, ein Flüchtling aus Syrien, der Bundesfreiwilligendienst in einem Hofer Pflegeheim leistet, schilderten, wie sie ihr Ankommen in Deutschland erlebt haben. Ihre Lebensläufe sind Beispiele dafür, wie Integration gelingen kann. Gönül Yerli kam als dreijähriges Mädchen aus Anatolien nach Schaftlach ins Tegernseer Tal und lernte während ihrer Kindheit und Jugendzeit zwei Welten kennen: das kulturelle und religiöse Erbe ihrer türkischen Großeltern und Eltern und Bayern, wo sie in der Schule den katholischen Religionsunterricht besuchte, Abitur machte und später in Würzburg sogar vier Semester katholische Theologie studierte. „Je länger ich da bin, umso mehr fühle ich mich Deutsch“, betonte die 40-jährige praktizierende Muslima in glasklarer deutscher Hochsprache. Sie unterstrich, dass es „den“ Islam nicht gibt. Der Islam sei so plural wie andere Glaubensgemeinschaften auch, was vielen Menschen in Deutschland aber nicht bewusst sei. „Es gibt ein wahnsinniges Nicht-Wissen auf beiden Seiten“, bedauerte sie.

„Das erste Hallo in Deutschland hat mir sehr geholfen“

Was ist „normal“ in Deutschland? Wie „ticken“ die Menschen in der neuen oberfränkischen Heimat? Auch der 27-jährige Obka Kerdiea musste sich in einer für ihn zunächst komplett fremden Welt zurechtfinden, als er von Syrien kommend in einem Flüchtlingsheim in Hof unterkam. Nach anfänglicher Euphorie, nun endlich in Deutschland zu sein, erlebte er dort eine Art Kulturschock, weil er sich isoliert und von der Bürokratie überfordert fühlte. Nach frustrierenden Versuchen, Kontakte zu den Einheimischen herzustellen, hatte er in einer Kirchengemeinde schließlich doch Erfolg: „Das erste Hallo in Deutschland hat mir sehr geholfen“, berichtete der ehemalige Englischlehrer und Informatiker. Durch seine Arbeit als „Bufdi“ in einem Pflegeheim, wo er spontan an die Tür geklopft und angeheuert hatte, hat er zwischenzeitlich viele Freunde und Bekannte gefunden und auch schnell Deutsch gelernt. Es gäbe täglich so viel Neues für ihn zu lernen, erklärte er und wünschte sich umgekehrt auch bei den Deutschen Offenheit, mehr über das Leben im Nahen oder Mittleren Osten zu erfahren.

Dr. med. Reinhard Erös, Gründer und Motor der Kinderhilfe Afghanistan, pflichtete dem bei: Sogar die Polizei habe schon mal bei einer Alarmierung „Sufis“ und „Salafis“ miteinander verwechselt und deshalb eine Situation zunächst komplett falsch eingeschätzt, berichtete er. Erös wies auch darauf hin, dass die Ausprägungen des Islam in Afghanistan komplett anders und viel individueller seien als etwa in den arabischen Ländern. Stereotypisierungen und Zuschreibungen passierten aus Unwissenheiten, manchmal auch aus Frust und aus Ängsten heraus, analysierte Prof. Dr. Irene Götz, Professorin für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität.

„Wir brauchen einen Orientierungsrahmen“

Sowohl Erös als auch Prof. Götz taten sich schwer mit dem Begriff einer deutschen Leitkultur. Es gäbe ja oftmals nicht nur eine Identität, sondern auch Vermischungen, sogenannte „hybride Identitäten“, erklärte die Professorin. Dennoch stimmte sie den Ausführungen von Alois Glück zu, der in seinem Impulsreferat vorab Leitlinien, Leitwerte bzw. notwendige Regelungen für unser Zusammenleben gefordert hatte: „Wir brauchen einen Orientierungsrahmen“, bekräftigte auch Prof. Götz und sah die Vorgaben dafür vor allem in den Bestimmungen des Grundgesetzes niedergelegt.

Der Begriff „Leitkultur“ sei leider zu einem „Kampfbegriff“ geworden, hatte Landtagspräsidentin Barbara Stamm zum Auftakt der Veranstaltung festgestellt. Sie bedauerte, dass im Zuge der Erarbeitung eines Bayerischen Integrationsgesetzes das Gemeinsame der Landtagsfraktionen dazu auseinandergefallen sei: „Je mehr Gemeinsamkeiten wir bei diesem Thema haben, umso besser“, appellierte sie und stellte im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens intensive Anhörungen und Diskussionen in Aussicht.

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