„Rolle und Zukunft der Landesparlamente“: Europapolitik im Fokus eines hochkarätigen Symposiums im Maximilianeum

München, 8. April 2016

– Von Zoran Gojic und Katja Helmö –

Die dritte Folge der Veranstaltungsreihe „Rolle und Zukunft der Landesparlamente“ richtete den Blick auf Europa: Im Rahmen eines Symposiums gingen Experten aus Wissenschaft und Politik der Frage nach, wie sich die Landesparlamente in einer EU mit 28 Mitgliedstaaten besser positionieren und im europäischen Mehrebenensystem Gehör finden können. Auch Gäste aus den Landtagen von Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Salzburg und Vorarlberg verfolgten dazu die Redebeiträge von 1. Landtagsvizepräsidenten und Staatsminister a.D. Reinhold Bocklet, Prof. Dr. Roland Sturm von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie EU-Kommissar Günther H. Oettinger.

Der Landtag hat auf europäischer Ebene Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen – aber er muss diese Möglichkeiten auch nutzen und sie erst einmal gut kennen. Vor diesem Hintergrund war es Landtagspräsidentin Barbara Stamm ein Anliegen, in der dritten Folge der von ihr initiierten Veranstaltungsreihe das Thema „Europa“ in den Mittelpunkt zu stellen, nachdem sich die Auftaktveranstaltung und zweite Folge auf landespolitische Themen bezogen hatten. Angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise erklärte Barbara Stamm: „Europa muss aufwachen. Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Es gelte, Europa und die europäische Werteunion zu stärken und wieder Vertrauen und Begeisterung für den europäischen Gedanken bei den Menschen zu wecken. Die Landtage, so die Präsidentin, könnten dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Günther Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, zollte in seinem Impulsreferat Respekt für die Idee des Landtags, sich jenseits der Tagespolitik darüber Gedanken zu machen, wo das Landesparlament in fünf oder zehn Jahren steht: „Sie können stolz auf den Föderalismus und ihre Staatlichkeit innerhalb Deutschlands sein. Nutzen sie es!“ Dies sei beispielsweise im Bereich der Bildung möglich. „Die Länder sollten den Willen und die Macht haben, sich das Thema zuzutrauen. Geben Sie keine Kompetenz ab, um dafür mehr Geld vom Bund zu bekommen. Das Geld muss den Aufgaben folgen. Der Föderalismus ist letztlich aufgrund der eigenen Schwäche in Gefahr“, warnte Oettinger. Nötig sei eine bessere Koordination der Regionen untereinander in den bestehenden Strukturen.
Oettinger würdigte ein einiges Europa als großartiges Projekt, ungeachtet mancher Mühen im Alltag. „Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, wofür die EU steht. Sie ist ein Friedensprojekt, eine Wertegemeinschaft, deren Menschenbild weit über Europa hinaus wirkt, und sie steht für den Binnenmarkt, von dem wir alle profitieren. Wenn wir Gehör finden wollen, in der Welt und im Wettbewerb bestehen, müssen wir mit einer Stimme sprechen“, erklärte Oettinger. Die EU biete gerade den Regionalvertretungen viele Möglichkeiten, sich einzubringen. So seien etwa die Landtage im Ausschuss der Regionen vertreten – im Bundesrat nicht. Das Landtagspräsidium besuche regelmäßig Brüssel, wo es die Chance zu Gesprächen über Parteigrenzen hinweg gebe. Wichtig für den Einfluss der Landtage auf Entscheidungsprozesse in Brüssel sei es, ihre Einwirkung deutlich vorzuverlagern: „Wenn ein Thema schon auf der Tagesordnung des Europäischen Parlaments steht, ist es eigentlich schon zu spät. Man kann viel früher herausfinden, was die Kommissare für Gesetzesvorhaben planen – das ist der Zeitpunkt, um sofort Präsenz zu zeigen und Interessen zu vertreten. Dann sind die Gremien auch aufmerksam“, zeigte sich Oettinger überzeugt.

Die Länder brauchen Unterstützung"

Angesichts der aktuellen politischen Lage drohe der EU eine Schwächung ungekannter Dimension: „Jetzt ist nicht gerade die Phase der Begeisterung für die EU, und da sei auch auf landespolitischer Ebene staatsmännische Feinarbeit gefragt. Alleine das Wort `Eurokraten`, was soll das bedeuten? Ich habe noch nie von `Schwabokraten` gesprochen. Wir müssen gemeinsam für eine Stabilisierung eintreten. Und wenn die EU-Kommission sich in Griechenland einmischt, ist das keine Arroganz, sondern Dienstleistung im Sinne der Union. Die Kommission hat sich das Thema nicht ausgesucht. Griechenland hat über seine Verhältnisse gelebt und bringt die gemeinsame Währung in Gefahr“, erklärte Oettinger. Eine Ursache für die gegenwärtige Vertrauenskrise der EU sei auch die Unkenntnis über Aufbau und Entscheidungsstrukturen innerhalb der Europäischen Union: „Die EU ist völlig anders strukturiert als Deutschland. Und das muss an den Schulen besser vermittelt werden, um die Prozesse innerhalb der Union begreifen zu können. Und wenn Sie starke Länder innerhalb der EU wollen, brauchen Sie starke Unterstützung aus Berlin für Länderinteressen“, sagte Oettinger.

„Europa bedeutet einen Mehrwert für die Menschen"

Bei der anschließenden Podiumsdiskussion lenkte Moderator Andreas Bachmann das Gespräch sofort auf das Kernproblem: Die Regionen wollen mehr Einfluss, die EU-Kommission hat daran nur sehr bedingt Interesse. Karl-Heinz Lambertz, Vizepräsident des Ausschusses der Regionen, wollte die Schuld nicht alleine auf Strukturen der EU schieben: „Die Regionen schöpfen das Potential der Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen, nicht voll aus“, räumte Lambertz ein. Mit Prinzipien-Reiterei würde man bei diesem komplexen Thema ohnehin nicht weiterkommen und falsche Ziele könnten in eine Sackgasse führen. Trotz aller berechtigter Anliegen auf mehr Mitsprache der Landesparlamente sei im Moment vorrangig, das Vertrauen in die Europäische Union als sinnvolle Institution wieder herzustellen. „Wir müssen den Menschen darlegen, dass Europa einen Mehrwert für sie bedeutet.“ Zudem solle man bei der Diskussion um Beteiligung der Regionen in der EU nicht vergessen, dass jedes Mitgliedsland anders organisiert ist. „Wir müssen verstehen, dass nicht alle Mitgliedsstaaten gleich sind. Es ist sehr schwer jemanden aus Finnland oder Portugal die Bedeutung der Regionen zu erklären. Ich glaube, die einzige Chance besteht darin, dass die Regionen ihre Kräfte bündeln und besser zusammenarbeiten“, betonte Lambertz.

Landtag will ernst genommen werden

Prof. Dr. Gabriele Abels von der Universität Tübingen wies darauf hin, dass es eine immense Herausforderung für ein Landesparlament sei, den Apparat der EU und die Prozesse in der Kommission auszuwerten: „Die Landesparlamente müssten besser ausgestattet werden, um einen Überblick über die Entwicklungen behalten zu können. Und es braucht Abgeordnete, die Interesse an Europa haben. Früher war das auch kein dankbares Thema, aber spätestens seit der Euro-Krise ist das anders. Das interessiert die Menschen. Die Abgeordnete eines Landtags hätten den Vorteil, näher am Bürger zu sein und zu vermitteln, was gerade in der EU passiert. Hier ist auch die kleinteilige Kommunikation wichtig“, erläuterte Abels.

Der Vorsitzende des Europaausschusses des Bayerischen Landtags, Dr. Franz Rieger (CSU), sah in der Aufstellung der Landesparlamente gegenüber der EU nicht das größte Problem. Das Grundproblem bestehe eher darin, dass die EU nicht auf Beteiligung von Landesparlamenten angelegt sei. „Der Europaausschuss ist gut aufgestellt und wir identifizieren Vorhaben, die für Bayern von Bedeutung sein könnten, oft früh. Aber wenn wir dann unsere Stellungnahme nach Brüssel abgeben, werden wir behandelt wie ein beliebiger Interessenvertreter. Aber der Bayerische Landtag ist kein Plastikwarenhersteller. Uns geht es nicht um wirtschaftliche Vorteile. Wir vertreten die Interessen von gut 13 Millionen Menschen. Ich plädiere für ein privilegiertes Anhörungsrecht der Landesparlamente in Brüssel“, forderte Rieger.

Veto-Recht für Landesparlamente?

Prof. Heinrich Oberreuter von der Universität Passau warnte vor allzu idealistischen Szenarien: „Ich plädiere für einen realistischen Blick auf die EU. Wenn man zu hohe Erwartungen weckt, erzeugt man nur Frustration. Es ist, glaube ich, wichtig, sich auf das Prinzip der Subsidiarität zu besinnen und keinen Zirkus zu inszenieren. Der Landtag kann nicht die Gesamttätigkeit der EU kontrollieren. Im Moment haben wir selektives Subsidiaritäts-Dingsbums. Wenn die Landesparlamente die Prozesse durch ihre Beteiligung noch weiter verlangsamen, verlieren sie den letzten Rest an Zustimmung. Den Menschen ist Effizienz wichtig“, meinte Oberreuter.

Auch Karl-Heinz Lambertz unterstrich die Bedeutung der Subsidiarität, um viele Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen: „Die EU soll sich nur um Themen kümmern, wenn es einen echten Mehrwert für Europa hat.“ Hans-Ulrich Pfaffmann (SPD), stellvertretender Vorsitzender des Europaausschusses, sprach sich für klar ausgeweitete Kompetenzen der Landesparlamente aus: „Ich bin dafür, bei EU-Vorhaben, die die Gesetzgebungskompetenz des Freistaats betreffen, dem Landtag über den europäischen Ausschuss der Regionen ein Veto-Recht einzuräumen“, erklärte Pfaffmann. Dies wäre trotz der Unterschiede in den Mitgliedsstaaten umsetzbar. „Wenn ein Land nicht föderal organisiert ist, braucht es keine Sonderrechte für seine Regionen. Ganz einfach. Föderalismus muss man aber bereits in Deutschland grundsätzlich überdenken. Die Bundesregierung verhandelt mit der EU über alle Themen – auch über die, für die sie im Bund gar nicht zuständig ist“, gab Pfaffmann zu bedenken.

„Hoffentlich bleibt Europa, wie es heute ist

Heinrich Oberreuter betrachtete diesen Ansatz kritisch: „Sinnvoller ist eine Stärkung der informellen Kommunikationsformen. Und würde die EU-Kommission die Landesparlamente so ernst nehmen wie die Lobbyisten in Brüssel, wäre das schon ein Fortschritt“, sagte Oberreuter. Hans-Ulrich Pfaffmann konterte mit dem Verweis auf die Schwierigkeiten, ohne institutionelle Verankerung Einfluss zu nehmen. „Der Europaausschuss nimmt seine Arbeit sehr ernst. Aber in den Medien kommen europapolitische Themen jenseits von Krisenberichterstattung kaum vor. Es ist schwierig, als Europapolitiker auf Landesebene die Motivation nicht zu verlieren. Und mit jeder Situation, in der man sich nicht ernst genommen fühlt, sinkt die Motivation. Europas Institutionen sind nicht in den Herzen der Menschen. Und wir müssen dafür sorgen, dass Europa wieder einen Platz im Herzen findet. Wenn die Menschen sich nicht beteiligen, wird die EU scheitern“, so Pfaffmann. Gabriele Abels warnte indes vor zu viel Emotionalität in der EU-Debatte: „Wir müssen auch die Köpfe erreichen, das Herz alleine reicht nicht. Und damit das gelingt, muss transparenter werden, wie die EU-Kommission arbeitet“, sagte Abels.

Bei der Abschlussfrage nach dem Erscheinungsbild der EU in zehn Jahren und der Rolle der Landesparlamente darin zeigten sich alle verhalten optimistisch. Hans-Ulrich Pfaffmann äußerte sich zuversichtlich, dass es in zehn Jahren um die Beteiligung der Regionen besser stehen würde als heute. Franz Rieger gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die EU so bleibt, wie sie heute ist – und Bayern mehr Gehör in Brüssel findet. Karl-Heinz Lambertz begreift die Zukunft der Europäischen Union auch als Aufgabe für die Regionen: „Die EU braucht die Integration, und die Landesparlamente haben dabei einen Transmissionsauftrag.“

Die Stellung der Landesparlamente im Mehrebenensystem der EU hatte zuvor Reinhold Bocklet in seinem Vortrag in juristischer und politischer Sicht beleuchtet. Der 1. Vizepräsident des Bayerischen Landtags und Staatsminister a. D. für Bundes- und Europaangelegenheiten beschrieb die verfassungspolitische Entwicklung der letzten Jahrzehnte. In einer Art Einbahnstrategie seien immer mehr Rechtsetzungskompetenzen auf höhere Ebenen – den Bund und die Europäische Union – und damit zu Lasten der Länder verlagert worden. Diese Entwicklung, so Bocklet, habe im „Exekutivföderalismus“ der Bundesrepublik zu einem Kompetenz- und Bedeutungsverlust der Landesparlamente geführt.

Überwindung einer anfänglichen Ohnmacht

In einem zähen Ringen hätten es die deutschen Länder im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Maastricht- und des Lissabon-Vertrages sowie dank dem Bundesverfassungsgericht allerdings geschafft, ihre Ohnmacht zu überwinden und den Verlust eigener Gestaltungsmöglichkeiten wieder auszugleichen. Als Instrumente und Meilensteine auf diesem Weg nannte er die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, die Etablierung eines Subsidiaritätsfrühwarnsystems und die Verfassungsänderung von 2013. Seitdem werden in Bayern Beschlüsse des Landtags von der Staatsregierung im Bundesrat im Rahmen der Willensbildung des Bundes entsprechend berücksichtigt. Das bayerische Parlament nehme zudem über seinen Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten nicht nur am Gesetzgebungsprozess teil, sondern es nehme auch Integrationsverantwortung wahr, indem dort europäische Politik diskutiert und vermittelt werde. Seit 2010 unterhält der Landtag auch ein eigenes Informations- und Verbindungsbüro in Brüssel.

Die größte Bedeutung hinsichtlich einer politischen Einflussnahme wies Bocklet dem direkten Kontakt des Landtags mit der Kommission zu: So sei es dem bayerischen Parlament gelungen, einen unmittelbaren politischen Dialog mit der Kommission in Gang zu setzen: Stellungnahmen werden direkt an den jeweils zuständigen Kommissar übermittelt. Von dort erhält der Bayerische Landtag direkt eine Antwortschreiben auf seine Stellungnahme.

Von der Perspektive der deutschen Landesparlamente auf die der Regionen in Europa wechselte Prof. Dr. Roland Sturm (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg). Dieser wertete den Regionalismus als eine wichtige Kraft, die produktiv verwendet, aber auch missbraucht werden könne. Europa habe dessen Potential zum zweiten Mal nach den siebziger Jahren wieder entdeckt. Kern dieses Erkenntnisprozesses sei der Bezug auf regionale Selbstbestimmung und die Forderung nach Autonomie, worauf die davon in erster Linie betroffenen europäischen Zentralstaaten mit Dezentralisierung bzw. Föderalismus antworteten. Sturm warf dazu auch Schlaglichter auf die vielfältigen Ausprägungen des Regionalismus – etwa in Flandern, Schottland, Katalonien, dem Baskenland oder Südtirol.

Vor ihren Reden hatten sich EU-Kommissar Günther H. Oettinger und Karl-Heinz Lambertz, 1. Vizepräsident des Ausschusses der Regionen, in das Ehrenbuch des Landtags eingetragen.


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Fernsehaufzeichnung

Die Veranstaltung wird vom Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet und in der Reihe „Denkzeit“ in ARD-Alpha ausgestrahlt. Sendetermin ist Samstag, 23. April 2016, um 22.30 Uhr.

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