Machen Zahlen Politik?

Chancen und Gefahren der Meinungsforschung in Zeiten von Social Media

01. März 2023

MÜNCHEN.   In der Reihe „Landtag im Gespräch“ begrüßte Landtagspräsidentin Ilse Aigner zum Thema Meinungsforschung zunächst neben den rund 200 Gästen auch ihren Amtskollegen André Kuper, den Landtagspräsidenten von Nordrhein-Westfalen. Er hatte sich bereits am Nachmittag in das Ehrenbuch des Bayerischen Landtags eingetragen und zu einem Gespräch mit der Landtagspräsidentin getroffen. Aigner begrüßte auch Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident a. D., Professor Dr. Thorsten Faas, Wahlforscher der Freien Universität Berlin, Gwendolin Jungblut, Inhaberin der Agentur „TheLeaderShip“ für Führung, Strategie und Wahlerfolge, sowie die Moderatorin Birgit Kappel, Leiterin des BR-Politikmagazin „Kontrovers“. Per Video zugeschaltet war Jörg Schönenborn, Programmdirektor des WDR, der wegen einer Corona-Erkrankung nicht anwesend sein konnte.

Mitläufer und Underdogs

„Meinungsforschung boomt. Die Zahlenspiele der Sonntagsfrage begleiten jeden Wahlkampf. Umfragen wie Politbarometer oder Deutschland-Trend gehören zum festen Repertoire jeder Politiksendung, füllen Zeitungsspalten und befeuern Diskussionen“, so die Landtagspräsidentin einleitend. Vor jeder Wahl stelle sich die Frage, was Meinungsforschung für die Wahlentscheidung der Bürger und was für die Politik bedeute. Es gebe aber keine Belege, dass Umfragen tatsächlich Auswirkungen auf Wahlentscheidungen hätten. Nur gegensätzliche Hypothesen, wonach Wähler gerne für potenzielle Gewinner („Mitläufereffekt“) oder aus Solidarität für den „Underdog“ stimmten. Klar sei, dass Umfragen Politiker beeinflussten, weil sie ihre Entscheidungen auf die Erwartungen ihrer Wähler abstimmten. „Machen Zahlen also Politik oder wird mit Zahlen Politik gemacht?“ Immerhin seien Umfragen am Wahltag verboten, an dem sich nicht wenige Wähler erst entscheiden. Andererseits gebe es immer mehr Briefwähler, die Umfragen bei ihrer Wahlentscheidung kennen würden. Im digitalen Zeitalter steige über Social Media das Risiko einer gezielten Wahlbeeinflussung deutlich und Debatten ließen sich schnell zuspitzen. Aigner warnte, Stimmungen ließen sich auch schnell in Stimmen verwandeln. Sie zitierte Franz Josef Strauß: „Man muss dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden!“ Wichtig sei für die Politik, Probleme der Bürger zu lösen, dann stimmten auch die Umfragen. „Ein Fähnlein im Wind hilft dabei genauso wenig wie das Kaninchen vor der Schlange.“ Denn Deutschland sähe heute anders aus, wenn nur Stimmungen gezählt hätten – von der Sozialen Marktwirtschaft über die deutsche Einheit bis zur europäischen Integration. Politiker sollten darum für ihre Überzeugungen einstehen und auch für Positionen kämpfen, die nicht der Mehrheit entsprächen – aber morgen vielleicht schon, weil „Umfragen nur eine Momentaufnahme“ seien. So habe Edmund Stoiber als Ministerpräsident zwar Umfragen zur Kenntnis genommen, aber sich nicht davon leiten lassen.

Der Angesprochene erinnerte an den Streit in den 1970er-Jahren über die Theorie der „Schweigespirale“, als die Gründerin des Allensbach-Instituts, Elisabeth Noelle-Neumann, beklagte, die Berichterstattung der Medien über angebliche Mehrheiten würde die Minderheit mutloser machen. Stoiber selbst hat als Kanzlerkandidat 2002 auch selbst gespürt, wie die erste Umfrage, die Kanzler Gerhard Schröder (SPD) nach Elbeflut und Irakkrieg plötzlich vorne liegen sah, zu einem „Stimmungsabschwung“ in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geführt habe. Er könne sich an zwei Fälle erinnern, bei denen er gegen Stimmungen entschieden habe: bei der Verteidigung des ausgeglichenen Haushalts 2003, der durch zahlreiche Kürzungen unpopulär geworden war, sowie 2002, als die Mehrheit der Bayern wünschte, Stoiber solle in Bayern bleiben. Es sei durch Social Media schwieriger geworden, „dem Volk aufs Maul zu schauen“, aber „jede Zeit hat ihre Herausforderungen“. Er lobte zugleich die Meinungsforscher, denn „im Prinzip ist der Trend immer bestätigt worden“. Meinungsforschung sei auch „ein Ventil, weil die Menschen nicht so viele Möglichkeiten hätten, Unmut zu bekunden“. Sie stehe „für das Einführen des Bürgerwillens in die politische Meinungsbildung“.

Die Zeitung von gestern

Jörg Schönenborn gab Einblicke in seine Arbeit für die ARD. So sei es nicht einfach, einen Fragenkatalog für Umfragen nach Wahlen zu entwickeln, weil man den Wahlausgang kenne. Er erinnerte an die Senatswahl in Berlin mit „einem ungewöhnlich landesbezogenen Wahlkampf“ angesichts der jahrelangen Pannenserie. Deshalb konnte man im Vergleich in Berlin ein deutlich abgesacktes Vertrauen in Behörden, Polizei, Politik und Justiz feststellen. Auch habe die CDU hohe Zustimmung in der Frage erhalten, wie sie die Silvester-Ereignisse in Berlin angesprochen habe, und es gab große Zustimmung in der Frage, ob sich die Grünen von den „Klimaklebern“ distanzieren sollten. Hier seien Parteien wieder unterscheidbar geworden. Dagegen sei im Bund 2002 mit Stoiber und Schröder „der letzte Polarisierungswahlkampf“ geführt worden. Danach hätten die Positionen der Parteien zu wichtigen Themen wie Eurokrise, Zuwanderung oder Corona immer stärker angeglichen. Mit Folgen: „Es gibt ein Spektrum, das sich in den Parteien nicht wiederfindet.“ Russlands Krieg gegen die Ukraine habe nun dazu geführt, dass Parteien „reihenweise ihr Programm über den Haufen werfen mussten“. Deshalb spielten in den Wahlkämpfen Trends und Personen eine zunehmend bedeutende Rolle, so Schönenborn. Er gestand auch eine Schwäche der Meinungsforscher: In der Frage, ob Deutschland der Ukraine Waffen liefern solle, gebe es eine stabile 60-Prozent-Mehrheit dafür. „Man kann aber durch die Art der Fragestellung das Ergebnis beeinflussen.“

Gwendolin Jungblut stellte fest, dass ihre Kunden Meinungsforschung oft überschätzten. Sie arbeite viel in Österreich, wo es mehr Umfragen auf kommunaler Ebene gebe. Hier sei die Themenauswahl „nicht so tiefgründig“. „Eine Aussagekraft, was die Menschen wirklich bewegt, ergibt sich daraus nicht“, betonte Jungblut. Darum arbeite man in der Agentur mit fiktiven „Personas“, bei denen man versuche, deren „Ängste, Sorgen, aber auch positive Sehnsüchte“ zu ermitteln. Dazu schaue man sich unterschiedliche Umfragen und Wahlergebnisse über längere Zeit an. „Da erkennt man einen Trend, da kriegt man ein Gespür, aus dem sich die Beratung speist.“ Die Agenturinhaberin sagte, die Bevölkerung würde auch einen gut erklärten Schwenk der Politik akzeptieren. Darum stelle sich in Sachen Ukraine, Klimaschutz oder Digitalisierung die Frage: „Warum informieren wir nicht anders?“ Sie empfahl, Meinungs- mit Tiefenforschung zu kombinieren, um die Demokratie zu stärken.

Wahlforscher hätten immer als „Eichmaßstab die Sonntagsfrage“, betonte Thorsten Faas. Aber im Umfeld zahlreicher Umfragen wolle kein Meinungsforschungsinstitut unglaubwürdig sein, weshalb die Demoskopie in Deutschland grundsätzlich „gut aufgestellt“ sei. Faas erinnerte an die Vorwürfe der Mitläufer- und Underdog-Effekte sowie an die Möglichkeit, „strategisch zu wählen“. Es bleibe aber die Frage, wer eigentlich demotiviert werde, wenn etwa die CSU in Umfragen weit vorne liege: Die Wähler der CSU oder die der Opposition? Und wen beeinflussten Umfragen? Wähler, Medien oder Politiker? Auch könnten etwa Fragen zur Kompetenz der Parteien unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob man die Antwort „Keine Partei ist kompetent“ anbiete oder nicht. „Es gibt Konstellationen, wo Meinungsforschung relevant wird, aber es gibt nicht den einen Effekt“, bilanzierte der Berliner Wahlforscher. Er warnte aber auch, dass Aktionen wie der Widerstand der FDP gegen das EU-Verbrennerverbot durch schlechte Umfragewerte der Partei erklärt und damit „entwertet“ werden könnten. Am Ende seien Stimmungen „nicht in Stein gemeißelt“: Faas erinnerte an die Frage der Leopard 2-Lieferungen an die Ukraine, als nach der Entscheidung auch die Zustimmung deutlich stieg. Zudem gebe es sehr komplexe Themen wie etwa Corona oder Klimakrise, die mit einfachen Fragen schwer zu erfassen seien.

/Andreas von Delhaes-Guenther

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