Erinnerungsveranstaltung „Das andere Leben“ und Ausstellungseröffnung „Back to Kaunas“ am 28. Januar 2025 im Senatssaal des Bayerischen Landtags

Den Gedenktag an die Opfer des Holocaust und den 80. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager hat der Bayerische Landtag mit einer bewegenden Doppelveranstaltung begangen: Der Schauspieler Thomas Darchinger brachte Erinnerungen des Überlebenden Solly Ganor an das Grauen im Ghetto von Kaunas in einem Live-Hörspiel zu Gehör, die wiederum bei der Eröffnung der Ausstellung BACK TO KAUNAS in einer künstlerischen Darbietung aufgegriffen wurden.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Lieber Abba Naor, 

Ich freue mich immer ganz besonders, 
wenn Sie bei uns zu Gast sind. 

Wobei, Sie sind eigentlich kein Gast. 

Ich darf sagen: 

Sie haben bei uns ein Zuhause. 

Das Band zwischen Ihnen und dem Bayerischen Landtag – es könnte enger nicht sein. 

Gemeinsam sind wir Botschafter 

  • für eine Erinnerung, die die Brücke ins Heute schlägt;
  • für den Schutz von Freiheit und Demokratie,
  • und für die Unantastbarkeit der menschlichen Würde.

Ich danke Ihnen von Herzen für Ihren unermüdlichen Einsatz im Sinne der Menschlichkeit. 

 

Thomas Darchinger,

Michael Shubitz, 

 

Direktor Karl Freller,

 

Vizepräsidenten Tobias Reiß und Alexander Hold,

Kolleginnen und Kollegen aus dem Bayerischen Landtag.

Josepha Gäßl und Dorothee Janssen von CultureClouds e.V. präsentieren uns „Always remember. Never forget“ München-Kaunas. 

 

Professor Andreas Bönte,

 

Präsident Dr. Hans-Joachim Heßler,

 

Generalkonsul Kušlys Donatas,

 

Wir freuen uns über viele 
Gäste aus allen Bereichen der Gesellschaft, 

 

Schülerinnen und Schüler,

insbesondere vom Feodor-Lynen-Gymnasium Planegg, dem Kurt-Huber-Gymnasium Gräfelfing, 

dem Otto-von-Taube-Gymnasium Gauting 

und dem Gymnasium München Moosach

 

sehr geehrte Damen und Herren, 

 

ich danke Ihnen allen für Ihr Kommen! 

 

 

Einen Tag nach dem 27. Januar – dem Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz – 
rufen wir auch hier im Bayerische Landtag mit 
zwei sehr besonderen Projekten die Shoa ins Bewusstsein. 

 

Soeben haben einige von Ihnen die sehr eindrucksvolle Lesung „Das andere Leben“ gehört – und gespürt.

Im Anschluss werden wir nun viel erfahren 

  • über die besondere Ausstellung „Back to Kaunas“,
  • über die Menschen hinter den Portraits,
  • ihr schreckliches Schicksal
  • und die wenigen Lichtblicke, die Michael Shubitz auch betont. Lichtblicke – in Gestalt von Menschen, die sich in dunkelster Zeit ihre Menschlichkeit bewahrt haben.
    Die geholfen haben, ohne die wir nicht in diese Gesichter sehen könnten. 

 

Wir erzählen Geschichten, die erzählt werden müssen. 

Immer wieder. 

Diese Geschichten, diese Menschen, diese Schicksale.

So haben Sie, lieber Thomas Darchinger,
soeben Ihre Stimme dem Shoa-Überlebenden Solly Ganor gegeben – seinen Schilderungen, seinen Erinnerungen.

Sie leben auf. 

Mit Ihrem Live-Hörspiel frieren Sie die Geschichte für einen Moment ein. 

Mit Ihrer so wichtigen Arbeit wenden Sie sich speziell an Schülerinnen und Schüler, um ihnen, um uns, 
das Unbegreifliche greifbar zu machen. 

Dass dieses Hörspiel heute musikalisch live aus der Ukraine von einem Quartett des Staatsorchesters untermalt worden ist, ist von besonderer Symbolkraft.

Lieber Herr Darchinger, ich danke Ihnen von Herzen, 
dass sie heute bei uns waren – 
und ich danke Ihnen für dieses wertvolle Projekt. 

 

Wie wichtig solche Projekte sind, zeigt eine internationale Umfrage der Jewish Claims Conference.

In Deutschland gab etwa jeder Zehnte in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen an, 
den Begriff „Holocaust“ nicht zu kennen.

Aber es geht nicht nur um die Begriffskenntnis – auch das Wissen um die Verbrechen ist erschreckend gering. 

  • Rund 40 % gaben an, nicht gewusst zu haben, 
    dass etwa sechs Millionen Juden ermordet wurden.
  • 15 % gingen von weit geringeren Opferzahlen aus.
  • 2 % waren der Auffassung, 
    die Shoa habe überhaupt nicht stattgefunden.

Da offenbaren sich gravierende Lücken,
die wir nicht akzeptieren können.

Denn wer um Geschichte nicht weiß, 

läuft Gefahr, sie zu wiederholen! 

Deswegen sage ich es nochmal: 

Wir berichten die Geschichten, die erzählt werden müssen. 

Immer wieder.

 

Meine Damen und Herren, 

Abba Naor, Solly Ganor und Uri Chanoch – 
dessen Bruder Daniel wir in der Ausstellung sehen und der leider im letzten Herbst verstorben ist – 
waren 13 Jahre alt, als sie ins jüdische Ghetto Kaunas verbracht wurden, 
eingepfercht mit rund 30.000 Menschen. 

Am 25. Nov. 1941 sehen sie eine nicht enden wollende Schlange erschöpfter, verängstigter, frierender Menschen.

Die SS treibt sie vom Bahnhof vorbei am Ghetto hinauf zum sogenannten „Fort IX“. 

Es sind fast 3.000 aus Deutschland deportierte jüdische Kinder, Frauen und Männer. 

Allein exakt 999 aus der bayerischen Hauptstadt: München.

Sie haben Koffer und Taschen dabei.

Die Männer tragen Anzüge, die Frauen Kostüme und Hüte.

Es sind assimilierte deutsche Juden – vielfach mit einem jahrhundertalten Stammbaum in Bayern.

  • Handwerker, Kaufleute,
  • Beamte, Ärzte, Rechtsanwälte,
  • Künstler wie die Malerin Maria Luiko,
  • oder Lehrer wie Ferdinand Kissinger, Großonkel des späteren amerikanischen Außenministers, 
    sein Bruder mit Ehefrau und den beiden Söhnen. 
  • Sowie Schüler der jüdischen Volksschule in München 

    – wie die 13-jährigen Zwillinge Ingeborg und Margot Ruthenburg und der 12-jährige Günter Hess 
    mit ihren Eltern.   

Sie wissen es noch nicht, 
aber sie sind auf dem Weg in den Tod.

Zwei Tage später werden sie einen Hügel hinaufgetrieben.

Oben müssen sie sich in Gruppen in Gräben legen. 

Darin werden sie erschossen. 

Das Morden dauert den ganzen Tag. 

 

Am 1. Dezember 1941 meldet die SS die Exekution von insgesamt 137.346 Juden – tatsächlich waren es noch viel mehr. Darunter tausende aus dem Ghetto und den Deportationszügen aus Deutschland. 
Litauen war damit laut SS-Bericht: „judenfrei“. 

Abba Naor, Solly Ganor und Uri Chanoch überleben die Tötungsaktionen im Winter 1941 – 
und erleiden in den Jahren darauf, jeder auf seine Weise, ein einzigartiges Martyrium. 

  • Ermordung von Familie und Freunden.
  • Folter, Seuchen, Hunger.
  • Deportation in unterschiedliche Konzentrationslager.
  • Tödliche Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie in Kaufering, einem Außenlager des KZ Dachau.
  • Und schließlich der Todesmarsch – 
    bis zur Befreiung durch US-Soldaten. 

Dass diese Geschichten erzählt werden müssen 
– weil sie uns so viel zu sagen haben - 

spürte auch der Fotograf und Kameramann 
Michael Shubitz.

Die Shoa begegnete ihm in Schule, Medien, überall. 

Nur zuhause nicht.

Seine Eltern – Überlebende – redeten nicht darüber.

Nicht mit ihm. 
Es war ihnen offenbar nicht möglich. 

Sie starben, ehe sie 60 Jahre alt wurden.

Und erst im Gespräch mit ihren Freunden in der Trauerwoche öffnete sich in seinem Elternhaus die Tür zur Vergangenheit. 

Er sieht es als Lebensaufgabe, sie nicht mehr zu schließen. 

 

Als Kaunas europäische Kulturhauptstadt wurde, 
wollte er auch das dunkle Kapitel der Stadt beleuchten.

Seine Portraits von Überlebenden des Ghettos bewegen:

  • Weil sich in den Bildern unsere Geschichte widerspiegelt.
  • Weil sich in den Bildern Schicksale widerspiegeln.
  • Weil jede und jeder einzelne Portraitierte für sich steht
  • und zugleich für Unzählige, 
    deren Gesichter damals für immer verschwanden.
  • Weil diese Gesichter vom Überleben erzählen – 
    und vom Leben.
  • Wir sehen Menschen – 
    und doch sind es Helden-Portraits. 
    Helden, die unvorstellbare Stärke bewiesen haben!

 

Lieber Herr Shubitz, ich danke Ihnen für diese bewegende und zum Nachdenken anregende Ausstellung und für Ihr Kommen am heutigen Tag! 

 

Und ich danke Josepha Gäßl und Dorothee Janssen für die musikalisch-textliche Umrahmung! 

  

Meine Damen und Herren, 

Gedenken darf nicht zu einem Ritual verkommen.

Einer Routine mit automatisierter Betroffenheit –  
ohne Bewusstsein.

Wir müssen unser Erinnern mit Leben füllen.

Aus der Erinnerung entspringt uns ein Auftrag zu aktivem Handeln. – Gerade jetzt. 

Die Botschaften, die Lehren aus der Geschichte sind brandaktuell. 

Nie war Geschichte so nah! 

  • Der Krieg in Europa.
  • Der Aufstieg der Autokratien – weltweit.
  • Das Erstarken rechtsextremer Kräfte – 
    auch bei uns und in unmittelbarer Nachbarschaft.
  • Und insbesondere: 
    der verheerende Anstieg von Hass gegen Juden.
    Ausgerechnet seit dem 7. Oktober 2023, 
    dem mörderischsten Pogrom an Juden seit der Shoa – bei dem auch in die Familie von Michael Shubitz eine schreckliche Lücke gerissen wurde.
  • Auch hierzulande werden jüdische Menschen 
    – ganz unabhängig davon, wie sie zu Israel stehen – wahllos angefeindet und attackiert. 

 

All das zeigt: 

80 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager leben wir in einer Zeit, in der vielen die Shoa weit weg erscheint – und in der wir doch erschrecken, 

wie gegenwärtig Geschichte ist. 

 

Wir sind nicht befreit 

  • von der Anfälligkeit für Hass und Hetze,
  • von der Möglichkeit, dass Unmenschlichkeit einsickert – in unsere Mitte.
  • Wir sind nicht befreit von einem „Wieder!“ 

 

Und das fängt nicht Konzentrationslagern an.

  • Es fängt nicht mit Worten an.
  • Es fängt an mit der Idee, 
    dass es Menschen gibt, 
    die weniger wert sind als andere.
  • Wann und wo immer uns dieser Gedanke begegnet, müssen wir ihn bekämpfen!

 

 

 

 

 

Meine Damen und Herren, 

als freiheitliche Demokraten, als Menschen, 
stehen wir auf dem Prüfstand.

 

80 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager müssen wir beweisen, dass wir dem vielfach beteuerten „Nie wieder!“ gewachsen sind. 

  • Wir haben das Zeug dazu,
  • wir haben die Verpflichtung dazu
  • und wir haben Vorbilder – wie die Menschen, 
    die den Portraitierten geholfen haben.

 

 

Also 

  • wehren wir uns gegen die Angriffe auf Freiheit und Demokratie
  • von außen und innen.
  • Wehren wir uns gegen jede Menschenverachtung.
  • Wehren wir uns gegen jeden Extremismus.
  • Wehren wir uns gegen ideologisches Denken, 
    in dem alle morgen die „anderen“ sein können.
  • Wehren wir uns gegen das „Immer wieder!“ 

 

Vielen Dank! 

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