Anhörung zur Zukunft des Sportunterrichts an Bayerns Schulen

„Fitte Senioren, unfitte Junioren“

9. Februar 2023

MÜNCHEN.    Wie soll ein zukunftsorientierter Sportunterricht an bayerischen Schulen aussehen? Auch mit Blick auf die Folgen der Corona-Pandemie tauschten sich die Mitglieder im Ausschuss für Bildung und Kultus mit Fachleuten aus, wie Bewegung in den Unterricht integriert werden kann. Dabei ging es auch darum, welche sportfachliche Ausbildung und Ausstattung dafür nötig ist.

Die meisten der insgesamt sieben Experten und einer Expertin aus Wissenschaft und Praxis waren sich recht einig, was pädagogische sowie didaktische Herausforderungen und die Ausrichtung und Gestaltung des Schulsports angeht. Von Bewegungsdefiziten, über Sportunterricht ohne Demütigungen bis Gamification diskutierten sie ein breites Themenspektrum mit den Abgeordneten im Ausschuss für Bildung und Kultus.
Für die einzige Frau in der Expertenrunde, Professorin Susanne Tittlbach, ist die zunehmende Heterogenität der Schülerinnen und Schüler eine dieser Herausforderungen, die die Lehrkräfte im modernen Sportunterricht bewältigen müssen. Die Lehrstuhlinhaberin für Sozial- und Gesundheitswissenschaften des Sports an der Universität Bayreuth forderte, einen kompetenzorientierten, mehrperspektivischen Unterricht mit dem Ziel, bei den Kindern sportliche Handlungsfähigkeit auszubilden. Den Fokus auf tradierte Sportarten, wie sie im bayerischen Lehrplan festgelegt seien, bezeichnete sie als eher hinderlich. Besser sei ein fachdidaktischer Ansatz, mit vielschichtiger Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur. Der Kritik des Abgeordneten Matthias Fischbach (FDP), der eine Schwächung der leistungsorientierten Sportarten befürchtete, begegnete die Professorin mit dem Hinweis, beide Aspekte seien im Unterricht wichtig: „Mehrperspektivität heißt nicht, Sportarten abzuschaffen.“

Paradigmenwechsel bei Ausbildung gefordert

Eine bessere Stellung des Faches Sport in der Schule war ein Anliegen von Professor Ansgar Schwirtz, von der Technischen Universität München (TUM). „Corona zeigt, wie wichtig Sport für unsere Gesellschaft ist“, erklärte der Professor für Biomechanik im Sport. Seinen Vorwurf, der Sportunterricht sei während der Corona-Krise als erstes ausgesetzt worden, das zeige die mangelnde Wertschätzung an der Schule, wollte der Mitarbeiter des Kultusministeriums, Ministerialrat Matthias Lorenz, nicht stehen lassen. Lorenz sagte, das Gegenteil sei der Fall gewesen. Professor Schwirtz war sich in nahezu allen Punkten einig mit seiner Kollegin Tittlbach. Beide verlangten einen Paradigmenwechsel bei der Sportlehrkräftebildung. Es gelte, ein Praxissemester während der ersten Phase der Lehrkräftebildung einzuführen, ohne Verlängerung der Gesamtausbildungszeit. Dadurch könnten angehende Lehrkräfte frühzeitig praktische Kompetenzen erwerben.

Auch Schwirtz´ TUM- Kollege Professor Filip Mess, mahnte einen modernen mehrperspektivischen, der Heterogenität verpflichteten Sportunterricht an. Die Lehrerprüfungsordnung (LPO) sei nicht mehr zeitgemäß. „Wir müssen den rechtlichen Rahmen kritisch prüfen“, sagte der Professor für Sport- und Gesundheitsdidaktik. Inhaltlich zu stark auf die Sportarten der 70er und 80er Jahre konzentriert, fehlten zudem die interdisziplinären Kompetenzen. 

„Traditionelle Sportarten gehören zum Identitätskern“

Anderer Ansicht war Professor Gereon Berschin, für den diese Leistungssportarten zum „Identitätskern“ gehören. „Sport ist nicht nur ein Bildungsfach, sondern ein Kulturfach“, sagte der Leiter des Sportzentrums und Professor für Trainings- und Bewegungswissenschaft an der Universität Passau. Berschin bejaht die LPO in ihrer bisherigen Form. Der Sportunterricht der Zukunft solle einen Bezug zum Sport herstellen und Spaß machen, aber es sei auch ein Fach im schulischen Fächerkanon. Der Professor unterstrich, dass auch das Schwimmen zentral zum Sportunterricht gehöre und verwies darauf, dass Sport und Bewegung sich generell positiv auf die kognitiven Leistungen auswirken.

Einen Bericht aus seinem Alltag lieferte Thomas Oswald, Fachbetreuer für Sport am Ignaz-Kögler-Gymnasium in Landsberg am Lech. Schwierig seien Hallensperrungen während der Flüchtlingskrise und während der Coronazeit gewesen. Noch immer bemerke er bei Schülerinnen und Schülern den Bewegungsmangel aus dieser Zeit. Faktoren für einen gelingenden Sportunterricht sind nach Oswalds Worten ausreichende Räumlichkeiten, Gruppen mit nicht mehr als 20 Schülern und ein ausreichendes Lehrerstundenbudget, um Wahlkurse anbieten zu können.

Handball-Weltmeister fordert Gamification

Mit Dominik Klein, Talentförderer und Geschäftsführer Bayerischer Handball-Verein Marketing in München, berichtete ein weiterer Praktiker in der Anhörung. Der ehemalige Handballspieler, war Teil des deutschen Weltmeisterteams von 2007 und betreut unter anderem den Grundschulaktionstag. Klein setzt auf Digitalisierung und Gamification, also spielerisch Kinder und Jugendliche zu mehr Bewegung zu motivieren. „Sie spielen und wissen gar nicht, dass sie sich bewegen.“ Er regte an, beispielsweise auch Youtuber als Identifikationsfiguren einzubinden. Das Wichtigste sei „leuchtende Kinderaugen zu schaffen“.

Von den „fittesten Senioren und den unfittesten Junioren“ sprach Jörg Ammon, Präsident des Bayerischen Landessportverbands (BLSV). Er beklagte, dass laut der KiGGS-Langzeitstudie des Robert Koch-Instituts zur gesundheitlichen Lage der Kinder und Jugendlichen in Deutschland nur jedes vierte Mädchen und jeder dritte Junge im Vorschulalter die von der WHO empfohlene Bewegungszeit von 180 Minuten täglich erreicht. Mit Blick auf den nahenden Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter mahnte Ammon eine bessere Zusammenarbeit von Sporteinrichtungen mit Bildungs- und Betreuungsinstitutionen an. In ehrenamtlichen Übungsleitern und hauptberuflichen Lehrkräften sieht Ammon kein Gegeneinander, sondern eine wichtige Ergänzung. Zudem bedauerte er die Tatsache, dass Sport das einzige Schulfach ist, das kein Vorrückungsfach ist, als ein Zeichen für die geringe Wertigkeit.

Sportunterricht im Blick

In der anschließenden Diskussionsrunde zeigten sich die sozialdemokratischen Abgeordneten, die den Antrag auf Experten-Anhörung im vergangenen Sommer gestellt hatten, erfreut, den Sportunterricht in den Fokus nehmen zu können. Diana Stachowitz (SPD) machte deutlich, dass Sportunterricht kein Ehrenamt sei und bei der Vermittlung auch Themen wie Ernährung und Gesundheit eine wichtige Rolle spielten. Max Deisenhofer (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN) verlangte die Schwimmförderung so zu gestalten, dass sie auch abgerufen werde und fragte, wie das fächerübergreifende Kompetenzlernen funktionieren könne, von dem einige Sachverständige sprachen. Für den Landsberger Lehrer Oswald liegt die Lösung in zusätzlichen Sportstunden. Die ergäben Chancen auf Flexibilisierung beispielsweise bei gemeinsamen Projekten von Physik und Sport. Dabei könnten auch Schülerinnen und Schüler einbezogen werden, die nicht so sport-affin sind.

Johann Häusler von den FREIEN WÄHLERN bezweifelte, wie praktikabel eine weitere vorgeschlagene Sportstunde ist. Unklar sei, woher die Fachkräfte kommen und wie die Stundentafeln umgestaltet werden sollten. Ebenso wie der FDP-Abgeordnete Fischbach kritisierte auch Georg Waschler (CSU) eine Schwächung der traditionellen Sportarten und fragte nach konkreten Lösungsvorschlägen, um die Reputation des Sportunterrichts im Fächerkanon aufzuwerten.
Auf die Frage des AfD-Abgeordneten Oskar Atzinger, welche es Probleme mit muslimischen Mädchen beim Schwimmen gebe und „durch die weitverbreitete Meinung, dass es mehr als zwei Geschlechter geben soll“, erklärten die Sachverständigen, Probleme seien nicht bekannt, man begegne aber beiden Themen mit Toleranz.

/ Miriam Zerbel

 

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