Rechtsextremismus in Europa

Im Ausschuss für Europa- und Bundesangelegenheiten analysieren Fachleute rechtsextremistische Strömungen

11. Oktober 2022

MÜNCHEN.     Was verbirgt sich hinter dem Begriff Rechtsextremismus in Europa? Welche Radikalisierungsformen gibt es und wie sind die Akteure vernetzt? Sachverständige von Universitäten und Forschungsinstituten, ein ehemaliger Präsident des Bundesnachrichtendienstes sowie die Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission lieferten den Abgeordneten im Europaausschuss eine Bestandsaufnahme und entwickelten Gegenstrategien.

Viele Fachleute sind sich einig: Nicht erst mit der Pandemie sind rechtsextremistische Kräfte in Europa stärker geworden. Für die SPD-Fraktion Grund genug, eine Anhörung im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie regionale Beziehungen zu initiieren, mit Unterstützung durch die Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Geladen waren sieben Expertinnen und Experten, die nicht nur einzelne Beispiele in den Fokus nahmen, sondern auch mögliche Lösungsansätze präsentierten.

Welche rechtsextremistischen Strömungen gibt es?

Zunächst diskutierten die Fachleute unterschiedliche Strömungen im Rechtsextremismus innerhalb der Europäischen Union. Dabei unterschieden sie vier Phänomenbereiche, nicht ohne zu betonen, dass es dazwischen Vernetzungen und Überschneidungen gebe. Anhänger der sogenannten „Neuen Rechten“ beziehen sich demnach ideologisch auf die Konservative Revolution mit Denkern wie Oswald Spengler, der als einer der intellektuellen Wegbereiter des Nationalsozialismus gilt. Sie versuchten, mit ihren politischen Ideen Anschluss in der Mitte der Gesellschaft zu finden. „Das sind Parteien wie die deutsche AfD, die österreichische FPÖ, die französische Rassemblement National“, sagte der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes Dr. August Hanning.

Auf eine neo-nationalsozialistische Ideologie oder auf die sogenannte „white supremacy“, also die „Überlegenheit der Weißen“ bezögen sich gewaltorientierte Rechtsextremisten. Als Beispiele nannte Dr. Hendrik Hansen, Professor für politischen Extremismus und politische Ideengeschichte an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin, die „Siege Culture“ von James Mason. Ebenfalls meist neo-nationalsozialistisch orientiert seien als dritte Gruppe Anhänger rechtsterroristischer Organisationen wie der NSU. Auffallend sei darin oft die extreme Radikalisierung sehr junger Menschen. Die „Delegitimierer“ des Staates schließlich seien Personengruppen, die sich im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie radikalisiert hätten, den Staat und seine Institutionen ablehnten, nicht zwingend rechtsextremistisch seien, für eine Kooperation jedoch offen.

Erkenntnis aus Undercover-Einsatz: Maßgeschneiderte Kampagnen

Julia Ebner, Senior Research Fellow am Institute for Strategic Dialogue in Berlin und London und per Video zugeschaltet, erklärte, die rechtsextremistische Szene in Deutschland spiele eine wichtige Rolle in der europäischen Vernetzung. Ebner berichtete von Undercover- Beobachtungen bei der Identitären Bewegung und maßgeschneiderten Kampagnen: „Man kann beobachten, dass unterschiedliche Themenschwerpunkte sehr klar strategisch abgestimmt und auf den jeweiligen Länderkontext angepasst werden.“ Nach ihren Worten vernetzt sich zudem die gewaltbereite rechtsextreme Szene in Deutschland bei Rechtsrock-Festivals oder über online-Kanäle zum Kampfsport (Mixed Martial Arts-Szene).

Auch Hanning betonte, man dürfe Rechtsextremismus nicht nur im nationalen Kontext begreifen. Es gebe vielmehr gemeinsame Narrative, die sich innerhalb Europas, aber auch im Verhältnis zu den USA entwickelt haben. Wichtig sei hier das Migrationsthema, allerdings fokussiert auf Migranten außerhalb des europäischen Kulturkreises. Die Gegenstrategien der Gesellschaft wie Überwachung seien bei gewaltbereiten Personengruppen schwierig. Hanning betonte aber auch den hohen Wert der Meinungsfreiheit. Vor allem mit Blick auf die vierte Gruppe der Delegitimierer sagte Hanning: „Administrative Maßnahmen wären erst gerechtfertigt, wenn eine konkrete Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung vorhanden wäre. Das sehe ich zur Zeit nicht. Aber wir müssen uns um die Themen kümmern.“ Hanning bezog sich vor allem auf das Thema Migration, das ernst genommen werden müsse.

Auch unter Beobachtung: legalistische Extremisten

Auf ein unterschiedliches Verständnis von Rechtsextremismus zwischen Deutschland und anderen europäischen Staaten verwies auch der Sachverständige Hansen. Während in Europa lediglich gewaltbereite Extremisten beobachtet würden, stünden in Deutschland aus der historischen Erfahrung heraus, auch legalistische Extremisten unter Beobachtung. „Die Neue Rechte fördert Radikalisierungsprozesse und stellt deshalb eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung dar, auch deshalb, weil man ihren Rechtsextremismus nicht so schnell erkennt.“

Einen Überblick über Rechtsextremismus in den nordischen Ländern gab die ebenfalls per Video zugeschaltete Expertin Dr. Cordelia Heß, Professorin für Nordische Geschichte der Universität Greifswald. Themen dieser Gruppen sind laut Heß neben Antisemitismus und Verschwörungstheorien zudem Anti-Feminismus, der sich aktuell auf queere Personen verlagert. Heß warnte, Anti-Queerness finde Anschluss an breite gesellschaftliche Kreise. Die Historikerin machte ferner eine Besonderheit deutlich: „Speziell für die nordischen Länder ist, dass [...] auch extrem rechte, gewaltbereite Gruppen als Parteien zur Wahl stehen.“

Rechtsextremismus als „substantielle Gefahr für die Demokratie“

Dass rechtextreme Gruppierungen auch geschickt sind im Umgang mit moderner Technik, zeigte Dr. Christiane Höhn, führende Beraterin des EU-Koordinators für Terrorismusbekämpfung beim Rat der EU, die aus Brüssel zugeschaltet war. „Sie versuchen über 3D-Druck Schusswaffen zu erwerben oder Kryptowährungen zu verwenden, um ihre Aktivitäten mehr außerhalb der Sicht der Behörden zu finanzieren.“ Immer wieder würden neue Anhänger auch über Online-Gaming rekrutiert.

Eine substanzielle Gefahr für die Demokratie sieht die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Systeme und Europäische Integration am Münchner Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft, Dr. Britta Schellenberg. „Rechtsextremismus ist eine lokale, regionale, nationale, europäische und globale Herausforderung“, so die Wissenschaftlerin. Sie empfahl, gezielt die plurale Demokratie zu stärken mit der Erarbeitung eines Bayerischen Landesprogramms gegen Rechtsextremismus, dem Ausbau der Präventions- und Interventionsarbeit sowie mittels politischer Bildung. Zugleich forderte Schellenberg Unterstützungsangebote für Betroffene von rechtsextremer Gewalt besser zu finanzieren, ebenso wie die wissenschaftliche Analyse.

„Juden sind noch immer Ziel Nummer eins der Rechtsextremisten“, beklagte Katharina von Schnurbein, Antisemitismusbeauftragte der Europäischen Kommission. Als alarmierend bezeichnete Schnurbein das jugendliche Alter vieler Rechtsextremisten, denen das Internet grenzüberschreitende Kontakte ermögliche. „Deshalb ist die Vernetzung derjenigen nötig, die sich mit Rechtsextremismus auseinandersetzen.“ Wichtig sei zudem der Austausch von best-practice-Beispielen.

Jugendliche aufklären und stark machen

In der anschließenden Diskussionsrunde mit den Ausschussmitgliedern ging es um konkrete Vorschläge zur Verbesserung und Aufklärung. So machte Markus Rinderspacher (SPD) deutlich, dass die Widerstandskraft der Gesellschaften wesentlich sei. „Holocaust-Gedenken wappnet nicht vor Rechtsextremismus.“ Der SPD-Abgeordnete fragte, welche Rolle Prävention und Politische Bildung spielten.

Auch Anne Franke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) mahnte explizit Prävention bei Kindern und Jugendlichen an verbunden mit der Frage, wie man diese Altersgruppe stark machen könne gegen rechtsextremistische Einflüsse. Ein Anliegen, das sie mit den CSU-Abgeordneten Dr. Ludwig Spaenle und dem stellvertretenden Vorsitzenden Dr. Gerhard Hopp teilte. Hopp verwies auf den Bayerischen Jugendring als außerschulischen Zugang. Spaenle, der Antisemitismus-Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung ist, beklagte ein Desiderat bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Präventionsstrategien.

Die Expertinnen Schellenberg und Schnurbein empfahlen, Netzwerke zu stärken, die aufklären, Rechtsextremismus zu zerlegen in Antisemitismus, Rassismus usw. und im Bildungsbereich mit positiven Beispielen zu arbeiten. Die Wissenschaftlerin Ebner appellierte mit Blick auf die Holocaust-Überlebenden, vermehrt digitale Technik wie Virtual Reality einzusetzen und Hologramme zu erstellen. Für die Sachverständige Höhn ist es wichtig, das richtige Maß zwischen Freiheit und Strafverfolgung zu finden. Sie machte deutlich, dass die Verschlüsselung auf Plattformen im Netz Ermittlungen schwierig machten.

/ Miriam Zerbel

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