Fachgespräch zur Situation der Pflegefamilien in Bayern

„Die Signale sind angekommen“

27. April 2023

MÜNCHEN.    Im Fachgespräch über die Situation der Pflegefamilien in Bayern diskutierten Experten mit dem Ausschuss für Arbeit und Soziales, Jugend und Familie über neue Möglichkeiten und Verbesserungen für alle Beteiligten.

Die Vorsitzende des Ausschusses, Doris Rauscher (SPD), begrüßte fünf Sachverständige, die in die Arbeit mit Pflegekindern eingebunden sind.

Elke Brehm-Kröning, stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien in Bayern e. V. (PFAD für Kinder), ist selbst aktive Pflegemutter. Der Landesverband hat rund 800 Mitglieder. Zuerst würden stets Verwandte gesucht, um die Kinder zu betreuen, erst dann Pflegefamilien. Wichtig sei vor allem die Vorbereitung der Pflegeeltern-Bewerber, damit sie gut starten könnten, wenn sie ein Kind übernähmen. Dafür gebe es Kurse in der Pflegeelternschule. Dazu eine Fort- und Weiterbildung der Pflegeltern, wenn Kinder mit Diagnosen wie FSAD (Fetale Alkoholspektrum-Störung) oder Traumatisierungen in die Familien kämen. Ein großes Problem sei, dass Pflegemütter, die über 30 oder 40 Jahre Pflegekinder erzogen hätten und aufgrund dessen nicht arbeiten konnten, nun „im Rentenalter in die Altersarmut“ fielen. Rentenpunkte würden hier nicht ebenso angesetzt wie etwa bei pflegenden Angehörigen. „Hier ist eine Absicherung nötig“, betonte Brehm-Kröning.

Weitaus größere Rucksäcke

Alwine Höckmair, Beisitzerin beim PFAD, mahnte, Fortbildung für Pflegefamilien sei bisher keine Pflicht, im Gegensatz zur Tagespflege. „Pflegeeltern informieren sich darum oft aus dem Internet mit teils unsinnigen Vorschlägen.“ Tagungen mit Fachreferenten müsse man mangels Pflegeeltern absagen – trotz angebotener Kinderbetreuung von Anfang bis Ende. „Sie kommen einfach nicht.“ Jugendämter fürchteten immer, wenn man Fortbildungen von den Pflegeeltern verlange, würde es noch weniger Bewerber geben. „Das sehen wir komplett anders: Wir wollen gut vorbereitete Pflegeeltern haben, weil die Ansprüche an sie immer größer werden“, ergänzte Brehm-Kröning. „Wir haben nicht mehr die Kinder, die wir vor 30 Jahren hatten. Sondern Kinder, die weitaus größere Rucksäcke mitbringen.“ Zudem gebe es Probleme mit Bewerbern, die aus dem Adoptivelternbereich kommen und andere Erwartungen an ein Kind hätten.

Isabella Brähler, stellvertretende Sachgebietsleiterin vom Amt für Jugend und Familie Dachau, erläuterte die Situation vor Ort: Jede Bewerbung als Pflegeeltern werde „auf Herz und Nieren geprüft, sozial, emotional, finanziell“, das habe sich bewährt. „Wir betreuen momentan 80 Pflegekinder in circa 60 Vollzeit-Pflegefamilien. Dazu kommen noch neun Kurzzeit-Pflegefamilien, die immer wieder mal belegt sind.“ Gerade im teuren Großraum München seien Familien oft darauf angewiesen, dass beide Partner Vollzeit berufstätig sind. Viele Pflegekinder seien aber noch sehr jung und benötigten „gerade am Anfang eine feste Bezugsperson“, die eben nicht berufstätig sei. Auch sei das Rententhema in der Tat „eine Schlechterstellung, die viele Pflegefamilien abschreckt“. Die aktuelle Aufwandsentschädigung liege bei Kindern bis sechs Jahren bei 970 Euro Lebenshaltungskosten im Monat für die Pflegefamilie. In einer stationären Jugendhilfeeinrichtung liege in dieser Altersgruppe dagegen der Tagessatz bei 250 Euro. „Das eine sind Fachkräfte, das andere sind Laien, aber da ist doch noch viel Luft dazwischen, um die Tätigkeit der Pflegefamilien aufzuwerten“, forderte Brähler. „Deren Aufgaben sind nicht nur schwierig, belastend und komplex, die sind auch sehr wichtig für die Gesellschaft. Nicht jedes traumatisierte Kind braucht Fachkräfte, aber stabile Verhältnisse.“ Hinzu komme, dass es keine Erziehungszeiten für Pflegekinder gebe, auch keinen Anspruch auf Elterngeld. Nicht selten hätten die leiblichen Eltern noch Umgangsrechte, auch da müssten die Pflegeltern an die Hand genommen werden, etwa wenn sie einen missglückten Umgang auffangen müssten. Viele seien auch mit dem Behördendschungel überfordert. Bewährt hätten sich Treffen von Pflegefamilien.

10.000 Pflegekinder pro Jahr

Larissa Böck von Context e.V., einer Kinder-, Jugend, und Familienhilfe, berichtete: „Wir unterstützen Pflegefamilien, die Kinder mit besonderem Bedarf aufnehmen, die schwierigen Fälle. Das Aufwachsen in einer Familie mit dem Erlernen von korrigierenden Beziehungserfahrungen kann eine stationäre Einrichtung nicht bieten.“ Man könne durch eigene Pädagogen, die wöchentlich in der Familie seien, gewährleisten, dass sich die Familie traue, kritische Dinge anzusprechen. Der „Rucksack, den die Kinder mit sich tragen“, packe sich langsam aus, manchmal erst im Teenageralter. Die Familien brauchten deshalb Ansprechpartner, „damit Probleme angegangen werden, bevor sie sich zu einer ausgewachsenen Krise entwickeln“.

Dr. Harald Britze, stellvertretender Leiter des Bayerischen Landesjugendamtes im Zentrum Bayern Familie und Soziales, berichtete als Vertreter der Staatsregierung, dass es in Bayern rund 8000 Pflegeverhältnisse pro Jahr gebe - dazu entfielen noch 2000 beendete und kämen 2000 neue dazu. „Die größte Gruppe der Pflegekinder liegt im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren, die Kinder werden aber immer jünger“, so Britze. Jedes der 96 Jugendämter biete Kurse und Fortbildungen sowie Unterstützungsleistungen im Einzelfall an. Man versuche grundsätzlich, den Lebensrhythmus der Familien „so normal wie möglich“ zu belassen.

Steffi Weinhold, Sachgebietsleiterin vom Amt für Jugend und Familie Dachau, nannte ein weiteres Problem: Viele Pflegefamilien wanderten oft nach München ab - wegen der besseren Bezahlung und anderen Vorteilen wie Platzfreihaltegebühr, Fortbildung und Ausstattung. „Das macht uns gerade im Bereich der Kurzzeitpflege zu schaffen“, kritisierte Weinhold. Sommerfreizeiten für Pflegekinder seien ein weiteres Thema, wo die Pflegeeltern mal Zeit für sich hätten. Das sei aber sehr wenig angenommen worden. Dennoch versuchten die Jugendämter, trotz fehlendem Personal an den Familien möglichst eng dranzubleiben.

„Eine immense psychische Belastung“

In der anschließenden Fragerunde erklärte Kerstin Celina (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „60 Pflegeeltern bei 80 Pflegekindern klingt nicht nach einer Auswahlmöglichkeit.“ Sylvia Stierstorfer (CSU) fragte, wie die Abgeordneten den Behördendschungel verändern sollten. Julika Sandt (FDP) wollte die Möglichkeit ausloten, wie man Adoptionseltern und Pflegeltern zusammenbringen könne. Außerdem fragte sie, wie viele Kinder in ihre leiblichen Familien zurückkehrten. Susann Enders (FREIE WÄHLER) fragte nach einer Altersbegrenzung für Pflegeeltern, den Interventionsmöglichkeiten bei Verdacht auf Kindswohlgefährdung und den emotionalen Schwierigkeiten einer Pflegefamilie. Matthias Enghuber (CSU) erkannte Parallelen zu anderen Sozialleistungen, wie im Kita-Bereich, wo zahlungskräftige Kommunen mit Sonderzahlungen Nachbarkommunen das Personal abwerben würden. Er fragte, ob es einen allgemein gültigen Kostenrahmen gebe. Zudem wollte er wissen, wie oft Rückführungen probiert würden.

Die Experten erklärten, dass es tatsächlich zu wenig Pflegeeltern in Bayern gebe. Grundsatz sei: Nicht mehr als drei Pflegekinder pro Familie. Es gebe für Verwandte keine Altersbegrenzung. Bei sonstigen Pflegeeltern werde ein „natürliches Eltern-Kind-Verhältnis“ angestrebt. Bei Pflegeverhältnissen sollten die Kinder in der Regel wieder zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren, das sei der Unterschied zur Adoption. Geschätzt gingen etwa die Hälfte wieder zurück, offizielle Zahlen gebe es aber nicht. „Rückführung ist immer ein Thema bei allen Pflegeeltern, und auch das Kind muss vorbereitet werden. Das ist eine immense psychische Belastung für alle Beteiligten, auch für die leiblichen Eltern“, mahnte Brehm-Kröning. Es gebe aber auch Kinder, die die Pflegefamilie sprengten, die müsse man rausnehmen. Es gebe Fälle, in denen Rückführungen sogar drei oder vier Mal probiert würden. Die Kinder kämen dann meist nicht wieder in die gleiche Pflegefamilie, weil die schon wieder ein anderes Pflegekind habe. Leider fänden die Jugendämter aber vor Gericht nur selten Gehör. Der Städte- und der Landkreistag hätten Empfehlungen für den Kostenrahmen herausgegeben, an die sich alle Kommunen außer München auch hielten. Jugendämter könnten bei Anzeichen für Kindeswohlgefährdung sofort handeln.

Die Ausschussvorsitzende Doris Rauscher (SPD) schloss: „Ihre Signale sind angekommen!“

/ Andreas von Delhaes-Guenther

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