Wenig Spielraum für Wahlrechtsreform

Sachverständigenanhörung im Verfassungsausschuss

31. März 2022

MÜNCHEN.     Muss das Landeswahlverfahren in Bayern reformiert werden? Das wollte der Verfassungsausschuss mit einer Sachverständigenanhörung herausfinden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SPD sorgen sich insbesondere um eine weitere Zunahme der Abgeordneten im Parlament. Diskutiert wurde auch über eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre und die unterschiedlichen Erfolgswerte von Wählerstimmen. Die geladenen Fachleute sahen insgesamt nur wenig verfassungsrechtliche Möglichkeiten für Veränderungen.

Für den Politikwissenschaftler Prof. Dr. Joachim Behnke von der Zeppelin Universität in Friedrichshafen war das Anwachsen des Landtags 2018 von 180 auf 205 Abgeordnete aufgrund der Veränderungen des Parteiensystems „kein Ausrutscher“. Er rechnet für die Landtagswahl 2023 nach aktuellen Umfragen mit 220 oder gar 230 Abgeordneten. Um das zu ändern, ist aus Behnkes Sicht eine Reduzierung der Überhangmandate nötig, was durch ein Absenken der Stimmkreise von 91 auf 70 erreicht werden könnte.

Mit einem Anstieg der Abgeordneten in der nächsten Legislaturperiode rechnet zwar auch der Präsident des Bayerischen Landesamts für Statistik, Dr. Thomas Gößl. Er wies allerdings darauf hin, dass die Zahl seit 1946 nahezu konstant war, obwohl sich die Zahl der Stimmberechtigten seitdem mehr als verdoppelt habe. Auch seien die Abweichungen der Stimmgewichtung wegen möglicher Überhangs- und Ausgleichsmandate keine Verletzung der Wahlgleichheit, das habe der Bayerische Verfassungsgerichtshof ausdrücklich entschieden.     

Aus verfassungsrechtlicher Sicht entscheidend ist laut Öffentlichrechtler Prof. Dr. Bernd Grzeszick von der Universität Heidelberg, dass der Landtag arbeiten kann und funktionsfähig ist. Das sei in anderen Bundesländern auch bei Landtagen der Fall, die sich vergrößert haben. Rechtspolitische Probleme könnte es aus seiner Sicht höchstens aufgrund der steigenden Kosten geben. Gleiches gelte aber auch für alle Alternativen, um ein Anwachsen des Landtags zu verhindern, beispielsweise bei der Kappung von Überhangmandaten oder dem Verzicht auf Ausgleichsmandate.

„Keine Alternative ohne Nachteile“

Selbst wenn der Landtag nächstes Jahr noch größer würde, wäre das auch für Prof. Dr. Markus Möstl, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Wirtschaftsrecht an der Universität Bayreuth, verfassungsrechtlich nicht problematisch. Alle Alternativen hätten andere Nachteile. Einfach und verständlich sei zwar das Grabenwahlsystem, wo Direktmandate nicht auf die Listenmandate angerechnet werden. Dafür bedürfe es jedoch einer Verfassungsänderung. Gleiches gilt laut Möstl auch bei der Absenkung des Wahlalters. Er empfahl daher, es beim bisher bewährten System zu belassen.

Staatsrechtlerin Prof. Dr. Ann-Katrin Kaufhold von der Universität München sah zwar keine Pflicht, aber gute Gründe für eine Wahlrechtsreform. Sie schlug vor, die Zahl der Überhangmandate zu begrenzen oder ganz abzuschaffen und die unterlegenen Kandidatinnen und Kandidaten mit einer Stichwahl zu ermitteln. Die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre hielt sie für verfassungsrechtlich zulässig – auch weil immer mehr politische Entscheidungen wie beim Klimaschutz eine generationsübergreifende Wirkung hätten und nicht revidierbar seien.

Prof. Dr. Kyrill-Alexander Schwarz, Inhaber einer Lehrprofessur für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg, verglich die Wahlrechtsreform mit einer „Quadratur des Kreises“. Beim Grabenwahlsystem sah er zwar ebenfalls erhebliche Vorteile, aber ebenso Nachteile für kleinere Parteien. Bei der Absenkung des Wahlalters erkannte er Probleme, wenn Jugendliche mit 16 Jahren zwar wählen dürfen, sich selbst aber nicht aufstellen lassen können. Außerdem würde das die Frage nach einem generellen Kinderwahlrecht oder Elternwahlrecht als Vertretung für ihre Kinder aufwerfen.

„Stimmkreis fairer ausrichten“

Der emeritierte Mathematiker Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim von der Universität Augsburg sprach sich bei der Sitzzuteilung des Landtags für die sogenannte Divisormethode mit Standardrundung aus. Das sei eine „faire Sache“. Er mahnte zudem an, Stimmkreise gleicher auszurichten. Bisher dürften sie maximal 20 Prozent von der landesweit durchschnittlichen Einwohnerzahl abweichen. Pukelsheim sprach sich dafür aus, dies – wie auch von der Venedig-Kommission des Europarates empfohlen – auf 15 Prozent zu reduzieren.

Öffentlichrechtler Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger von der Universität Augsburg warnte vor einer Reduzierung der Stimmkreise, weil die Bayerische Verfassung großen Wert auf die besondere Nähe zwischen den Wählerinnen und Wählern und den Abgeordneten lege. Durch das Bevölkerungswachstum würde jeder Abgeordnete schon jetzt im Schnitt fast acht Prozent mehr Menschen repräsentieren als noch im Jahr 2000. Stimmkreise und Wahlkreismandate müssten sich ungefähr die Waage halten.

Ein selbsterklärter „Exot“ unter den Sachverständigen war der Auerbacher Bürgermeister Joachim Neuß aus der Oberpfalz. Er plädierte dafür, die Einteilung der Wahlkreise genauer zu überprüfen. Seine Stadt sei beispielsweise dem Wahlkreis Tirschenreuth zugeschlagen worden, obwohl Auerbach nicht an die Stadt Grafenwöhr, sondern nur an den US-Truppenübungsplatz Grafenwöhr grenze. Laut Neuß gibt es daher keine engere Verwaltungszusammenarbeit mit der Stadt, man orientiere sich eher Richtung Oberfranken.

Opposition fordert Verbesserungen

Toni Schuberl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sprach sich vor allem für eine Absenkung des Wahlalters aus. Bereits 1970 sei das aktive Wahlrecht von 21 auf 18 Jahre reduziert worden, ohne dass es Probleme gegeben hätte. Um die Anzahl der Überhangmandate zu reduzieren, sollten sie nicht im Wahlkreis, sondern bayernweit ausgeglichen werden.

Alexander Muthmann (FDP) beklagte die mangelnde Deckungsgleichheit der Stimmkreise mit dem Anteil der Bevölkerung. Dies sei nur noch bei 21 der 91 Stimmkreise in Reinform der Fall, 27 seien über der Grenze von 15 Prozent, wo Änderungen empfohlen werden. Die Staatsregierung sehe aber erst ab 25 Prozent Handlungsbedarf.

Tobias Reiß (CSU) sah nicht, wie die Quadratur des Kreises beim Wahlrecht gelingen soll. Am Ende würde das Landeswahlverfahren nur „verschlimmbessert“. Der Landtag sei auch mit 220 Abgeordneten noch arbeitsfähig, er warnte gar vor einer „Verzwergung“ des Parlaments. Beim Wahlalter sah Reiß den Freistaat ebenfalls auf der richtigen Spur.

Horst Arnold (SPD) erinnerte daran, dass 1998 der bayerische Senat abgeschafft und im Gegenzug der Landtag verkleinert wurde. Es gebe also durchaus viel Pragmatismus, betonte er. Die Abweichung bei den Wahl- und Stimmkreisen widerspricht in Arnolds Augen der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Bayern, weil ländliche Räume anders zu würdigen seien als Ballungszentren.

/ David Lohmann

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