„Die Regionen sind Europas neuer Motor“ – Interview mit Tobias Gotthardt, dem Vorsitzenden des Europaausschusses

4. April 2019

Im Schatten des Brexit und angesichts erstarkter nationalistischer Parteien gilt die bevorstehende Europawahl vielen als Schicksalswahl. Die Internetredaktion des Bayerischen Landtags sprach mit Tobias Gotthardt, dem Vorsitzenden des Europaausschusses im Landtag, über die Bedeutung der Europapolitik für Bayern und was der Bayerische Landtag tut, um bei Bürgerinnen und Bürger für die Teilnahme an der Europawahl am 26. Mai zu werben.

Herr Gotthardt, rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien verbuchen die meisten Zuwächse, die konservative EVP und Sozialdemokraten verlieren hingegen Stimmen und Sitze – das ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage des EU-Parlaments zur Europawahl. Was bedeutet dieser Trend für die zukünftige Arbeit des EU-Parlaments?

„Diese Europawahl ist in besonderem Maße eine Schicksalswahl. Wir reden gerne vom „Haus Europa“ – ein Bauwerk, bei dem es an vielen Stellen knarzt. Wir stehen vor der Frage: Behalten wir Demokraten den Helm auf, um das gemeinsame Haus mit politischem Blaumann und gesellschaftlicher Maurerkelle zu sanieren – oder übergeben wir es an die, die mit der Abrissbirne kommen. Für mich gibt’s darauf nur eine Antwort. Trotzdem wird die Arbeit im neuen Europaparlament schwieriger werden. Wir wissen heute noch nicht, wie sich die rechte, die nationalistische, teils antieuropäische Seite in Fraktionen organisiert. Aber wir sehen schon heute: Wo Europafeinde wirken, weht verbal ein rauher Wind. Ich erwarte einige Sturmböen – da braucht es Standfestigkeit.“

„Der Landtag ist Bayerns
starke Stimme in Europa“

Europapolitik ist schon längst zur Innenpolitik geworden – mit konkreten Auswirkungen auf den Alltag der Bürgerinnen und Bürger. Warum ist Europapolitik gerade auch für Bayern so wichtig?

„Bayern ist ein großes, wirtschaftlich starkes Land im Herzen Europas. Eigenständig gerechnet, wären wir das neuntgrößte Land in der EU – vor Belgien, Tschechien und Griechenland. Größer als Slowenien, Litauen, Kroatien und Irland zusammen. Entsprechend trifft uns europäische Gesetzgebung im Alltag: Bürger, Mittelstand, Kommunen, Industrie und Landwirte – alle müssen mit den Vorgaben aus Brüssel und Straßburg leben. Entsprechend müssen wir uns einbringen. Und der Landtag ist zentrales Forum dieser Interessenvertretung, wir sind Bayerns starke Stimme in Europa.“

Welche Verbindungen bzw. welchen Austausch gibt es zwischen dem EU-Parlament und dem Bayerischen Landtag?

„Anknüpfend an unsere historische Sitzung im Straßburger Rathaus (siehe Europaausschuss zeigt Flagge in Straßburg) werden wir den Dialog mit den europäischen Kolleginnen und Kollegen weiter intensivieren und verstetigen. Über den Ausschuss der Regionen sind die Regionen schon heute ein neuer, bedeutender Motor der europäischen Entwicklung – und als Bayerischer Landtag oftmals in der Federführung. Mit unserem Büro in der Bayerischen Vertretung in Brüssel verfügen wir über eine leistungsstarke Antenne unserer parlamentarischen Arbeit. Mir als Vorsitzendem ist es wichtig, regelmäßig vor Ort in Brüssel und Straßburg zu sein, um zu zeigen: Wir sind da, wir bringen uns ein.“

Am 2. April hat der Bayerische Landtag in seiner Vollversammlung die sogenannte Brüsseler Erklärung(Dokument vorlesen)

/fileadmin/Internet_Dokumente/Sonstiges_P/Bruesseler_Erklaerung_2019.pdf(Dokument vorlesen) übernommen. Sie soll zu mehr politischer Mitverantwortung der regionalen Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen auf europäischer Ebene führen. Wie könnten die regionalen Parlamente – also auch der Bayerische Landtag – künftig noch mehr bei europäischen Rechtsetzungsvorhaben einbezogen werden?

„Wir sind als Landtag weit mehr als nur eine regionale „Subsidiaritätspolizei“. Wir haben Europakompetenz. Und wir haben die notwendige Kompetenz-Kompetenz. Entsprechend bringen wir uns entlang des gesamten Gesetzgebungsprozesses ein. Wir sagen „Stopp!“, wenn vitale bayerische Interessen durch europäische Regelungen bedroht werden. Wir korrigieren, wo Bürokratie regiert und bremst. Schon heute gehen all unsere Beschlüsse an die Europäische Kommission – und werden dort auch gehört. Neu in den Fokus nehmen wir jetzt die Arbeit des Europaparlaments: Ich will dann präsent sein, wenn unsere europäischen Kolleginnen und Kollegen Gesetzgebungspakete in Ausschüssen und dem Plenum öffnen. Genau dann sollen unsere Positionen – weit mehr als bisher und zielgenau – direkt an die gehen, die an den europäischen Vorgaben arbeiten.“ 

Als „Foren des europapolitischen Diskurses“ kommt den regionalen Parlamenten demnach eine besondere Rolle beim Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern“ zu. Gibt es Veranstaltungen, die im Vorfeld der Europawahl im Bayerischen Landtag geplant sind?

„Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit: Landtag und Europaausschuss als Plattform für Bürgerinteressen stärken. Das tun wir vor und nach der Europawahl – teils mit ganz neuen, kreativen Instrumenten. Am 4. Mai ist der Landtag mit einem Infostand beim Europafest in Augsburg vertreten. Am 21. Mai begrüßen wir im Ausschuss den Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin, Richard Kühnel, im Ausschuss. Und am 22. Mai lädt der Landtag im Rahmen der Jungen Reihe zur Diskussionsveranstaltung „Bring dich ein! Diskutiere Deine Ideen für Europa mit Landtagsabgeordneten“. Darüber hinaus konzipieren wir aktuell „Bürgerforen“ des Europaausschusses, mit denen wir künftig in den Regierungsbezirken vor Ort gehen wollen.“

„Diese Europawahl – vielleicht ist sie sogar
die wichtigste Wahl seit Bestehen der EU“

Was steht bei der Europawahl am 26. Mai auf dem Spiel? Und was kann jeder von uns tun, um für diese Wahl zu werben?

„Wie gesagt: Diese Europawahl ist eine Schicksalswahl – vielleicht ist sie sogar die wichtigste Wahl seit Bestehen der EU. Ich will nicht, dass fanatische Antieuropäer, unser einmaliges Friedensprojekt mit der politischen Abrissbirne demolieren. Entsprechend leidenschaftlich werbe ich für diese Wahl – genauso wie es auch die Präsidentin und das gesamte Präsidium tun. Unter sämtlichen Emails der Landtagsverwaltung leuchtet seit Wochen – auf unsere Ausschuss-Initiative hin – das Logo der Kampagne Diesmal wähle ich! des Europaparlaments. Wir werben für den Wahlgang – das kann jede und jeder: Wenn wir alle versuchen, nur eine Hand voll Menschen in unserem Umfeld zum Wählen zu bewegen, ist viel gewonnen. Mein Motto deshalb: „High five“ – ein starker Handschlag für Europas Zukunft!“

Herr Gotthardt, vielen Dank für das Gespräch.
Interview: Katja Helmö


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