Kino im Landtag: Maria Schrader zeigt „Vor der Morgenröte“

Dienstag, 07. Juni 2016
Von Isabel Winklbauer

Es habe in Europa Zeiten gegeben, in denen "der halbe Kontinent auf einen anderen flüchten wollte, hätte er die Möglichkeit gehabt." Unter anderem mit diesem Filmzitat begrüßte Landtagspräsidentin Barbara Stamm rund 300 Gäste zum Kino im Landtag. "Vor der Morgenröte" gab es im Senatssaal zu sehen, ein ungewöhnliches Werk über den Schriftsteller Stefan Zweig im amerikanischen Exil. Zur Freude aller Anwesenden saß auch Regisseurin Maria Schrader im Publikum. "Auch in unseren Tagen ist Flucht für viele Menschen die einzige Lösung", mahnte Stamm – und zeichnete damit die Podiumsdiskussion vor, die sich an die Filmvorführung anschloss.

Schraders Filmbiographie zeichnet in fulminanten Bildern Stefan Zweigs Flucht vor den Auswüchsen des Nationalsozialismus nach. Es ist auch und vor allem eine innere Flucht. Anders als viele seiner Zeitgenossen litt Zweig keine materielle Not. Im Gegenteil, Brasilien nahm den damals höchst populären Autor von "Brennendes Geheimnis" und "Maria Stuart" sowohl zum PEN-Kongress 1936 als auch bei der endgültigen Emigration 1941 mit exzessiver Begeisterung auf. Die Natur Brasiliens, die Fähigkeit der brasilianischen Gesellschaft zum multikulturellen Zusammenleben begriff Zweig als utopisches Paradies – und nahm sich doch 1942 mit seiner Frau Lotte das Leben, weil er die geistige und sprachliche Heimat Europa verloren hatte. Diese tragische Entwicklung, zu der auch eine vehemente Weigerung, Deutschland zu verurteilen gehörte, nahm die Gäste im Landtag um so mehr gefangen, als der Film in episodenhaften, authentischen Fensterblicken erzählt.

Zweig war gegen jede Art der Radikalität

Die Moderatorin des Abends, Literaturexpertin Cornelia Zetzsche vom Bayerischen Rundfunk, gab den Zuschauern und Diskussionsteilnehmern zunächst eine kurze Einführung zu Stefan Zweig, diesem geschickten Erzähler seelischer Innenansichten und wenig religiösen "Juden aus Zufall", wie er sich selbst einmal beschrieb. Warum nur wollte er sich nicht öffentlich gegen Hitler äußern? Dieser Frage gingen neben Maria Schrader der deutsch-iranische Schriftsteller Said sowie die Politikwissenschaftlerin Petra Bendel vom Zentralinstitut für Regionenforschung der Universität Erlangen nach.

"Man darf das Schamgefühl nicht vergessen", konstatierte Said, der selbst im Alter von 17 Jahren aus dem Iran in die Bundesrepublik geflohen war. "Wie soll jemand, der so viel verloren hat, sein Land, seine Sprache, seine Kultur, Antworten geben?" Dem setzte Petra Bendel ihre aktuelle Studie entgegen, im Rahmen derer die befragten Flüchtlinge doch gerne von sich aus über ihre Flucht redeten. Schrader schloss das Thema mit ihrer Interpretation: "Der Selbstmord war die einzige Möglichkeit des radikalen Pazifisten Zweig, Kritik zu üben. Er wollte seine Worte nicht als Waffe nutzen und nahm die Stigmatisierung in Kauf. Er verweigerte jede Radikalität."


"Brillantes Lehrstück über den Umgang mit der heutigen Flüchtlingssituation"



Dass Stefan Zweigs Exil und "Vor der Morgenröte" ein brillantes Lehrstück für den Umgang mit der heutigen Flüchtlingssituation sind, darüber herrschte Einigkeit in der Podiumsrunde. "Es gibt so viele Parallelen", notierte Bendel. "Man denke an Zweig Vision eines freien Europa, das vom Krieg konterkariert wurde – so wie unsere Vision einer Europäischen Union derzeit eine Renationalisierung erfährt." Auch auf der emotionalen Seite fand die Expertin ähnliche Situationen. So wie Zweig etwa Brasilien mit einem lobpreisenden Roman dankte, "so wollen auch heute Flüchtlinge sich gerne einbringen und etwas zurück geben. Die Dankbarkeit ist groß."

Von Schraders packendem Film inspiriert verabschiedeten die Diskussionsteilnehmer schließlich spontan ein theoretisches Maßnahmenpaket gegen die Flüchtlingskrise: Keine Massenabfertigung forderten sie, stattdessen eine individuelle Bearbeitung der Asylanträge; ein Aufspüren der Ängste in der Bevölkerung, um darauf einzugehen; außerdem mehr Patenprojekte wie das der Stadt München, in dem Bürger mit Flüchtlingen spazieren gehen. Ebenfalls fest auf den Plan gesetzt: die Lektüre von Stefan Zweigs Autobiografie "Die Welt von gestern".

"Zäune nützen nichts", zitierte Cornelia Zetzsche daraus, "Hartherzigkeit hat noch keinen einen Schritt weiter gebracht." Der Wunsch schwebte im Raum, Kino möge öfter Anstöße für einen gesellschaftlichen Diskurs geben.

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