Politthriller zum Oktoberfest-Attentat im Bayerischen Landtag

11. Juni 2013 -

Von Heidi Wolf

Großes Kino im Bayerischen Landtag: „Der blinde Fleck“ heißt der Film, der vom Oktoberfest-Attentat am 26. September 1980 handelt und der am Dienstag, 11. Juni 2013 im Maximilianeum gezeigt wurde – in einer exklusiven Sondervorführung, denn die eigentliche Weltpremiere erlebt „Der blinde Fleck“ am 4. Juli 2013 beim Filmfest München. Weit über 300 Gäste waren gekommen, um den politisch aufrüttelnden, bewegenden und zugleich mutigen Film zu sehen, der genau deswegen so gut wie kein anderer in das Angebot „Kino im Landtag“ passt. Parlaments-Präsidentin Barbara Stamm sagte in ihrer Begrüßungsrede: „Wenn ein solcher Film vom Bayerischen Rundfunk gemacht, vom FilmFernsehFonds Bayern gefördert  und zum ersten Mal beim Filmfestival in München öffentlich präsentiert wird, dann wollen wir ihn als Landtag auch ganz bewusst hier zeigen.“ Der Film schlägt den Bogen vom September 1980 zu aktuellen politischen Ereignissen im Zusammenhang mit der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Die Taten dieses rechten Terrornetzwerks und die Hintergründe beschäftigen auch den NSU-Untersuchungsausschuss im Bayerischen Landtag. Dort sagte am Dienstagabend auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann aus, ehe er zum Filmabend kam und sich dort auf dem Podium den kritischen Fragen von SZ-Redakteurin Annette Ramelsberger stellte, einer Expertin für Rechtsextremismus. Ihre Eingangsthese: „Wäre das Oktoberfest-Attentat 1980 richtig aufgeklärt worden, wären möglicherweise die Wurzeln für den NSU gekappt worden.“ Der Film erhebe den Vorwurf, die Sicherheitsbehörden und die Staatsschützer seien in den Terrorakt verstrickt gewesen, hätten nicht sauber ermittelt und vertuscht, sagte Ramelsberger. Der Innenminister widersprach in einem Punkt: Der Begriff „verstrickt“ treffe nicht zu: „Das ist ein gewaltiger Unterschied.“

Engagierte Debatte nach dem Film

Mit Joachim Herrmann saßen auf dem Podium: BR-Journalist Ulrich Chaussy, dessen wahre Geschichte den Stoff für den Film lieferte,  Regisseur Daniel Harrich, Andreas Bönte, Programmbereichsleiter Planung und Entwicklung im Bayerischen Fernsehen, sowie der Schauspieler Heiner Lauterbach, im Film der umstrittene Verfassungsschutzchef Dr. Hans Langemann, dessen Aktivitäten einen Untersuchungsausschuss im Landtag vor 31 Jahren wiederholt beschäftigt haben. Daniel Harrich will sein Erstlingswerk als Denkanstoß verstanden wissen. „Wir halten es für richtig und wichtig, dass solche Themen aufgegriffen werden“, erklärte Harrich. Der Film ist ein Dokument der Zeitgeschichte, interessant vor allem für junge Leute und deshalb wird ihn auch das Fernsehen zeigen, betonte Andreas Bönte. Ein Kassenschlager wird dieser Film im Kino nicht werden, ist der Schauspieler Heiner Lauterbach überzeugt: zu schwere Kost, vermutete er. Einig waren sich alle Diskussionsteilnehmer darin, dass gegenüber rechtsextremen Tendenzen noch viel mehr Wachsamkeit nötig ist als bisher praktiziert wird. „Deshalb betreiben wir auch das NPD-Verbot“, betonte Innenminister Joachim Herrmann. Er berichtete, wiederholt bei der Generalbundesanwaltschaft die Wiederaufnahme der Ermittlungen zum Oktoberfest-Attentat beantragt zu haben – bisher leider ohne Erfolg. Keine neuen Erkenntnisse, deshalb auch kein neues Verfahren, werde argumentiert. „Es war ein 13-facher Mord und Mord verjährt nie“, kommentierte der BR-Journalist Ulrich Chaussy diese Aussage. Für den Reporter ist der Film „Der blinde Fleck“ eine Genugtuung. Er hat sich in die Recherchen zum Oktoberfest-Attentat regelrecht verbissen, nie entmutigen lassen. Zusammen mit Regisseur Daniel Harrich schrieb er das Drehbuch für diesen Politthriller, wie Filmfest-Direktorin Diana Iljine sagte und als Botschaft formulierte: „Wir leben in einer wachen Demokratie, aber die bedarf des Hinschauens.“

Erstmals ist das Oktoberfest-Attentat Thema eines Spielfilms

„Der blinde Fleck“ ist der erste Film, der jemals zum Oktoberfest-Attentat  am 26. September 1980 entstanden ist, dem größten Terroranschlag in der deutschen Nachkriegsgeschichte. 13 Menschen starben, darunter zwei kleine Mädchen und ein Bub, über 200 wurden verletzt, 60 davon schwer. Am Haupteingang des Münchner Oktoberfestes war eine Bombe explodiert, mitten hinein in die fröhliche Stimmung auf der Wiesn, mitten hinein in den Endspurt der Bundestagswahl. Generalbundesanwalt Kurt Rebmann spricht zunächst von der Tat einer rechtsextremen Gruppierung. Die bayerischen Ermittlungsbehörden und Staatsschützer aber schreiben das Verbrechen einem Einzeltäter zu. Ulrich Chaussy misstraut dieser Theorie: Er stößt bei seinen Recherchen auf immer mehr Ungereimtheiten und zweifelt die offiziellen Ermittlungsergebnisse an. Als im November 2011 überraschend die NSU-Mordserie aufgedeckt wird, sieht sich Chaussy mit seiner Warnung vor organisiertem rechtsextremen Terror bestätigt.

Bezug zu aktuellen Ereignissen

Genau dieser aktuelle Bezug hat Autor, Regisseur und Produzent Daniel Harrich an der Geschichte interessiert: „Auf Basis von Ulrich Chaussys jahrzehntelangen Recherchen beleuchtet unser Film auch die Rolle des Verfassungsschutzes und der Politik bei den damaligen Ermittlungen. Ein brisanter Stoff, der in den vergangenen Monaten durch die gewonnenen Erkenntnisse rund um die Zwickauer Terrorzelle nochmals an Aktualität gewonnen hat.“ Neben Heiner Lauterbach als Verfassungschutzchef wirken weitere hochkarätige Stars  mit: Benno Fürmann spielt Ulrich Chaussy, Nicolette Krebitz ist Lise, seine Frau, Miroslav Nemec Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, Udo Wachtveitl gibt den schmierigen und korrupten Boulevardjournalisten Werner Winter.  August Zirner ist in der Rolle von Meier zu sehen, der Chaussy geheime Unterlagen zuspielt. Jörg Hartmann verkörpert den engagierten Opferanwalt Werner Dietrich. Zu der Präsentation im Landtag waren von den Hauptdarstellern Heiner Lauterbach und Miroslav Nemec gekommen, außerdem ihr Schauspielerkollege Friedrich von Thun. Als prominenteste Politiker nahmen neben  Landtagspräsidentin Barbara Stamm Innenminister Joachim Herrmann, der ehemalige Innenminister und Ministerpräsident Günther Beckstein, und der SPD-Abgeordnete Franz Schindler teil, der Vorsitzende im NSU-Untersuchungsausschuss. Im Publikum saß außerdem Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, und Professor Klaus Schaefer, Geschäftsführer des FilmFernsehFonds Bayern. Ulrich Chaussy hatte Opferanwalt Werner Dietrich eingeladen, außerdem zahlreiche Kolleginnen und Kollegen vom Bayerischen Rundfunk. Er wollte sie am Ergebnis seiner langen Recherchearbeit teilhaben lassen. Ein unbeirrbarer Journalist auf der Suche nach der Wahrheit!

„Der blinde Fleck“ als Angebot in der Reihe „Kino im Landtag“. Ziel ist es, den medienpolitischen Diskurs zwischen den Abgeordneten, die schließlich auch über die Filmförderung entscheiden, und den Filmschaffenden zu vertiefen. Mit der Einbindung des Filmfests München, des zweitgrößten Festivals in Deutschland, geht das Parlament noch einen Schritt weiter. Für Filmfest-Direktorin Diana Iljine ist das eine folgerichtige Entwicklung: „Film kann Diskussionen auslösen und sie befördern. Das gilt für „Der blinde Fleck“ ganz besonders. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Vorab-Vorführung waren tief berührt und betroffen von diesem hoch politischen Film, der im nachhinein viele Zusammenhänge erschließt und zurückblendet in die Zeit des Kalten Krieges und die damaligen harten ideologischen Auseinandersetzungen. Ein Dokument der Zeitgeschichte! 

„Der blinde Fleck“ ist eine Koproduktion der diwafilm GmbH mit dem Bayerischen Rundfunk, ARTE und Südwestrundfunk. Der FilmFernsehFonds Bayern hat ihn mit 250 000 Euro gefördert. Auch diesmal machte es ARRI wieder möglich, dass sich der Senatssaal des Maximilianeums in einen Kinosaal verwandelte – für einen ganz besonderen Film.

Stimmen zu "Kino im Landtag"

Innenminister Joachim Herrmann: „Der Bayerische Landtag ist der Ort, an dem wir über politischen Extremismus beraten und entscheiden, wie man dagegen vorgehen kann. Deshalb war der Landtag ein guter Ort, um diesen Film zu zeigen und über neue Perspektiven des Themas zu diskutieren.“ 


Landtagspräsidentin Barbara Stamm: „Die Veranstaltung hat sicher die Sensibilität für das Thema des rechtsextremistischen Terrors geweckt und nachdenklich gemacht – auch mich. Wir müssen aus möglichen Fehlern der Vergangenheit lernen.“


Autor und Regisseur Daniel Harrich: „Es war eine grandiose Erfahrung für mich und ein Beleg für die Stärke der demokratischen Kultur in unserem Land“. 


Ulrich Chaussy: „Ich war überwältigt von der großen Akzeptanz und der Nachdenklichkeit im Saal. Es ist das Beste, was diesem wichtigen Thema passieren kann. Viele wollten lange vom Oktoberfest-Attentat nichts mehr hören. Aber wir sind es diesem größten Terrorakt der deutschen Nachkriegsgeschichte und den Opfern des Anschlags schuldig, weiter darüber zu sprechen.“


Filmfest-Direktorin Diana Iljine: „Ich habe mich sehr gefreut, dass ein Film aus dem Programm des Filmfest München ein solch besonderes Vorabspiel im Landtag hatte. Mich hat die Offenheit des Landtags beeindruckt und ich finde sehr positiv, wie engagiert man das Thema diskutiert hat.“

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