Transparenz und Legitimation in der Pandemiebekämpfung

München, 22. April 2021

Welche Rolle spielt der Bayerische Landtag bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie und wie können Entscheidungen transparenter und demokratischer gestaltet werden? Antworten auf diese Fragen diskutierten zehn Experten im Ausschuss für Verfassung, Recht, Parlamentsfragen und Integration.

Der Bayerische Landtag könne ebenso wie die anderen bundesdeutschen Länderparlamente angesichts des verfassungsrechtlichen Gesamtgefüges keine Hauptrolle bei der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie spielen, erläuterte Prof. Dr. Martin Burgi, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Umwelt- und Sozialrecht an der LMU München. Durch die Existenz der Ministerpräsidentenkonferenz, die als solche ein grundsätzlich verfassungsrechtlich legitimes Gremium sei, bekomme der politische Handlungsspielraum der Länder einen Zuwachs. Dies geschehe, indem der oder die jeweilige Ministerpräsident/in in diesem Forum der Entscheidungsvorbereitung politische Impulse setzen könne. Dabei sei er oder sie wiederum der allgemeinen Kontrolle des jeweiligen Landtags unterworfen. Im bisherigen Verlauf der COVID-19-Pandemie habe der Landtag laut Burgi in „beachtlicher, was die Intensität und Ernsthaftigkeit der Diskussion betrifft auch beeindruckender Weise die ihm zustehenden Befugnisse der nachträglichen Kontrolle genutzt“. Dass er sich bislang nicht dazu entschlossen habe, Möglichkeiten der Beteiligung an den Entscheidungen über Schutzmaßnahmen zu schaffen sei aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu kritisieren, sondern die Rollenverteilung zwischen Exekutive und Legislative habe sich bewährt.

Einfluss durch Dringlichkeitsanträge

Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Öffentliches Wirtschaftsrecht an der Universität Augsburg, stellte fest, dass in Bayern zwar keine spezifische gesetzliche Grundlage für die Parlamentsbeteiligung existiere und daher auch keine förmlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf den Verordnungserlass bestehe. Trotzdem habe sich in der Praxis eine „relativ weitgehende Parlamentsbeteiligung“ eingestellt. So werde der Bayerische Landtag über die Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen informiert. Auf der Basis einer Regierungserklärung des Ministerpräsidenten erfolgten zudem Plenardebatten einschließlich der Abstimmung über Dringlichkeitsanträge. „Letztere verhalten sich auch zum jeweils aktuellen Entwurf der Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, sodass der Landtag – bei Billigung – diesem seine Zustimmung erteilt (bzw. auch verweigern oder Änderungsvorschläge unterbreiten kann), zwar ohne unmittelbare rechtsförmliche Konsequenzen, aber doch mit erheblicher politischer Bedeutung“, erläuterte Wollenschläger. Auf diese Weise werden Öffentlichkeit, Transparenz und damit auch Legitimation hergestellt und über die Dringlichkeitsanträge indirekt Einfluss genommen.

Mehr Akzeptanz schaffen

Prof. Dr. Ulrich M. Gassner, Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg, bekräftigte, dass die Methode „wait and see“ nicht die adäquate Maßnahme sei, um die Pandemie regional einzudämmen. Als eine der wichtigsten Aufgaben des Landtages nannte er die Herstellung von Akzeptanz in der Bevölkerung für Hygieneschutzregeln. „Ein adäquater Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen findet nur bedingt statt, wenn die Regierung, die im Zweifel nur Mehrheitsinteressen vertritt, Entscheidungen trifft. Dadurch entsteht die Gefahr, dass die Interessen von Minderheiten mangelhaft repräsentiert und in der Folge nicht hinreichend berücksichtigt werden“, gab er zu bedenken. Als ein mögliches Mittel für die Herstellung von mehr Akzeptanz nannte Dr. med. Wolfgang Hierl, Sachgebietsleiter des Staatliches Gesundheitsamtes Rosenheim, die Vorbereitung der Behandlung im Plenum durch einen eigenen Ausschuss. „Auf Ebene der Kreisverwaltungsbehörden sollte versucht werden, in die Anordnungen die Expertise anderer Beteiligter, z.B. Katastrophenschutz, Heimaufsicht, Sozial- und Jugendamt, Schulamt, Schulleitungen, Aufsicht der Kindertageseinrichtungen sowie möglichst auch der Bürgerinnen und Bürger einfließen zu lassen“, schlug er vor.

Wie können sich Bürger beteiligen?

In Bezug auf mehr Bürgerbeteiligung müsse grundsätzlich zwischen direktdemokratischen und dialogischen Formen differenziert werden, sagte Fabian Reidinger, der in Vertretung für Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg, an der Diskussion teilnahm. Er befürwortete informelle Bürgerbeteiligung wie sie zum Beispiel durch das „Bürgerforum Corona“ praktiziert werde. „Durch den Austausch auf Foren entwickeln die Menschen ein Verständnis für Maßnahmen und haben die Möglichkeit, ihre Sorgen mitzuteilen“, erklärte Reidinger.

Eingriff in Grundrechte

Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg, ging auf das Dilemma ein, dass die Anforderungen daran, Einschränkungen zu rechtfertigen, zunehmen, je länger sie dauern. Der Landtag könne die Verantwortung für das Krisenbewältigungsregime nur übernehmen, wenn er in der Lage wäre, die gesetzlichen Schutzmaßnahmen sehr zügig immer wieder an veränderte Verhältnisse anzupassen – was in der Praxis kaum möglich sei. „Man kann versuchen, den Landtag dadurch zu beteiligen, dass man ihm gestattet, ‚pandemische Leitlinien‘ zu erlassen wie das in Nordrhein-Westfalen vorgesehen ist. Aber die notwendige demokratische Legitimation der Pandemiebekämpfung lässt sich nicht über nur politische Willensbekundungen herstellen“, räumte er ein.

Gebot der Transparenz

Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg, wies darauf hin, dass die massiven Kollateralschäden, die sich aufgrund der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergeben, in den Diskussionen noch zu wenig berücksichtigt werden. Sowohl hinsichtlich der Ministerpräsidentenkonferenz als auch im Hinblick auf die einschlägigen Beratungen der Staatsregierung empfahl Lindner, dass die Mitglieder öffentlich tagen sollten: „Hierdurch könnte ein höheres Maß an Transparenz in Angelegenheiten erreicht werden, die – was ihre Grundrechtsintensität – angeht, ihresgleichen suchen.“ Auch Prof. Dr. iur. Christoph Degenhart, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Medienrecht an der Universität Leipzig, deutete darauf hin, dass beim Erlass von Verordnungen Transparenz, also nachvollziehbare und dokumentierte Begründungen, aus verfassungsrechtlicher Sicht wichtig seien.

Unabhängige Expertise gefragt

Dr. iur. habil. Ulrich Vosgerau, Privatdozent an der Universität Köln, kritisierte, dass sich Entscheidungen an der fachlichen Expertise von Naturwissenschaftler orientierten, die besonders radikale und kompromisslose Lockdown-Maßnahmen befürworteten. Vosgerau empfahl, möglichst nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf Länderebene, Krisenstäbe zu gründen, in denen unabhängiger wissenschaftlicher Sachverstand vertreten sei, der auch die Allgemeinmedizin sowie die Sozialpsychologie, die Wirtschafts-, Sozial- sowie die Rechtswissenschaften miteinbeziehe. Prof. Dr. Ulrike Protzer, Institut für Virologie an der Technische Universität München, machte deutlich, wie wichtig es sei, dass Entscheidungen möglichst transparent und vor allem schnell getroffen werden. „Das Virus wartet nicht, sondern sucht sich seine Wege. Deshalb müssen wir auch entsprechend schnell handeln.“

In der anschließenden Aussprache fragte Dr. Franz Rieger (CSU), inwieweit ein Rechtsschutzdefizit vorläge, aufgrund der Klagen in Bezug auf den Eingriff in Grundrechte. Laut Wollenschläger existiere kein Rechtsschutzdefizit und er bezeichnete als eine zentrale Aufgabe des Bundesverfassungsgerichtes im Rahmen von Entscheidungen, Vertrauen aufzubauen.

Öffentliche Expertensitzungen

Die Expertenanhörung wurde auf Initiative der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einberufen. Toni Schuberl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) begrüßte, dass die Aussagen der Experten bestätigten, der Bayerischen Landtag habe, trotz des neuen Bundesgesetzes zur Bundes-Notbremse, noch viele Möglichkeiten zur Kontrolle der Staatsregierung. Allerdings seien laut Lindner noch einige grundsätzliche Fragen zum Beispiel in Bezug auf verordnungsvertretender Landesgesetze offen. Alexandra Hiersemann (SPD) erkundigte sich nach den Grundlagen für die Legitimation von Expertengremien. Degenhart betonte, dass diese eine ausschließlich beratende Funktion besitzen sollten. Gassner empfahl, solche Expertensitzung gemeinsam mit der Staatsregierung öffentlich zu machen – etwa via Livestream. Ausschussvorsitzende Petra Guttenberger (CSU) fragte, wie sich Inzidenzwerte in der Praxis vergleichen ließen. Das sei letztlich eine Frage der Verhältnismäßigkeit, welche infektiologischen Eingriffsschwellen man für die Rechtmäßigkeit von Grundrechtseingriffen fordere, erläuterte Lindner. Christoph Maier (AfD), stellvertretender Ausschussvorsitzender, warf die Frage auf, was der Landtag für den Schutz der Grundrechte machen könne. Degenhart verdeutlichte: „Wir müssen uns immer bewusst sein, dass wir in einer Ausnahmesituation sind und deshalb ist die bundesweite Notbremse auch nur ein vorübergehender Notbehelf.“

Alle Ausschusssitzungen werden auf dem YouTube-Kanal des Bayerischen Landtags im Livestream übertragen: https://www.youtube.com/user/BayernLandtag

Die Tagesordnungen zu den jeweiligen Ausschusssitzungen finden Sie unter Aktuelles/Tagesordnungen und kommen hier direkt zum Ausschuss für Verfassung, Recht, Parlamentsfragen und Integration.

/AS

 

 

 

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