Das Beschwerdewesen im Königreich Bayern (1818-1918)

Rechtliche Grundlagen

Die Grundlage für die Einrichtung und Tätigkeit des Beschwerdeausschusses der Kammer der Abgeordneten bildete Titel VII § 21 der Verfassungsurkunde von 1818.
In der X. Verfassungsbeilage und in Titel X § 5 der Verfassung wurde dieses Beschwerderecht näher definiert. Als die Kammer der Abgeordneten 1825 eine ausführlichere Geschäftsordnung erhielt, wurden die Vorschriften für das Beschwerdewesen in restriktivem Sinn neu gefasst. Mit der Geschäftsordnung von 1831 wurden diese Bestimmungen zur Behandlung von Beschwerden nur unwesentlich geändert.
Nach der Revolution von 1848 erhielt die Kammer der Abgeordneten eine größere Geschäftsordnungsautonomie. In Bezug auf das Beschwerdewesen war ihr lediglich vorgeschrieben, dass Beschwerden in einem Ausschuss vorzuberaten waren. Mit der Geschäftsordnung von 1851 wurde dazu wie bisher ein ständiger Ausschuss eingerichtet. Die Mitgliederzahl wurde jetzt auf neun erhöht; bis dahin waren es üblicherweise sieben gewesen. Die neuen Vorschriften für das Beschwerdewesen stärkten vor allem die Kompetenzen des Ausschusses. Eine wesentliche Änderungen des Beschwerdewesens brachte aber erst das Geschäftsganggesetz von 1872. Von nun ab konnte der Landtag selbst entscheiden, wie er mit den Beschwerden verfuhr; die Abgeordnetenkammer regelte dies mit ihrer Geschäftsordnung von 1872. Wieder wurde mit der Prüfung der Beschwerden ein Ausschuss beauftragt. 1904 wurde nochmals eine neue Geschäftsordnung erlassen, doch beließ diese die Bestimmungen zum Beschwerdewesen unverändert.

Die Verfassung von 1818 hatte zwar den Bürgern die Möglichkeit gegeben, sich wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte an das Parlament zu wenden, aber nicht, auf diesem Weg auch Wünsche, Anträge und Bitten - d. h. Petitionen vorzubringen. Erst mit der Geschäftsordnung von 1872 wurde in der Abgeordnetenkammer ein Petitionsausschuss (Art. 19 und 27) eingerichtet, an den die Bürger auch solche Eingaben richten konnten. Bisher waren sie darauf angewiesen, dass sich ein Abgeordneter ihr Gesuch "aneignete" und in der Kammer vorbrachte. Damit verlor die Verfassungsbeschwerde deutlich an Bedeutung, ihre Aufgaben wurden nun weitgehend von den Petitionen übernommen. Und als 1878 der Verwaltungsgerichtshof eingerichtet wurde, büßte sie auch ihre Funktion als Verwaltungsrechtsbehelf ein.

Die politische Dimension des Beschwerdewesens

Schon vor 1872 aber gab es gravierende Veränderungen im Beschwerdewesen. Sie betrafen vor allem die Prüfung der Zulässigkeit von Beschwerden, die zunächst allein dem Ausschuss zustand. Von 1825 bis 1848 konnte aber der Kammerpräsident eine Vorkontrolle ausüben. Und auch auf andere Weise versuchte die Regierung zu verhindern, dass Beschwerden als Instrumente in der politischen Auseinandersetzung genutzt wurden. So wirkte sie auf die Ausschusswahlen ein, damit im Beschwerdeausschuss eine regierungsfreundliche Mehrheit zustande kam, die nur in Ausnahmefällen Beschwerden vor das Kammerplenum brachte. Außer über diese vom Ausschuss anerkannten Beschwerden durfte aber keine Plenardebatte geführt werden. Das änderte sich erst 1872, denn nun mussten alle Beschwerden durch Plenarbeschluss entschieden werden.
Die beste Absicherung der Regierung gegen unliebsame Beschwerden stellte jedoch die Kammer der Reichsräte dar. Sie bildete eine Stütze der Monarchie und hat sich deshalb fast stets aller Angriffe auf die Regierung verweigert. Deswegen war die Erfolgsquote der Beschwerden sehr gering.
Die wenigen Beschwerden, die vom Landtag unterstützt wurden, fing die Regierung mit juristischen Mitteln ab. Wichtigster Ansatzpunkt war eine sehr enge Definition des Begriffs "constitutionelles Recht", auf dem das gesamte Beschwerderecht basierte. Die Regierung befürchtet, dass sich andernfalls das mit der Befugnis der Prüfung der Beschwerden ausgestattete Parlament zu einem Kontrollorgan der Exekutive hätte aufschwingen können; das war mit dem monarchischen Regierungssystem nicht zu vereinbaren. Die Definition der "constitutionellen Rechte" war weniger ein juristisches als vielmehr ein politisches Problem. Nur wenn man eine enge Definition durchsetzte, konnte sich die Exekutive, an deren Spitze der Monarch stand, dem Zugriff des Landtages entziehen. Es war von entscheidender politischer Bedeutung, dass die Regierung die enge Auslegung des Beschwerderechts in der Praxis durchsetzte. Dabei war der Widerstand von seiten des Landtages eher schwach. Dazu passte, dass 1834 auch die Grenzen des "zivilen Widerstandes" der Bürger enger gezogen wurden. Diese enge Auslegung des Beschwerderechts wurde trotz mancher Abweichungen bis zum Ende der Monarchie beibehalten und damit auch die Vorrangstellung der Regierung vor dem Parlament.

Das Beschwerdewesen in der Praxis

Bei der politischen Bedeutung des Beschwerderechts möchte man annehmen, dass zumindest die Kammer der Abgeordneten dieses eher großzügig handhabte. Der Blick auf die Praxis im Ausschuss wie im Plenum aber bestätigt diese Vermutung nur mit Einschränkungen. Auch der Beschwerdeausschuss hat eine Vielzahl von Beschwerden deswegen nicht zur Vorlage gebracht, weil es sich um keine Verfassungsverletzungen im juristischen Sinne handelte. Bei dieser generellen Zurückhaltung bestand jedoch ein Zusammenhang zwischen der Bereitschaft, Beschwerden aufzugreifen und der politischen Tendenz der jeweiligen Kammermehrheit. Stand diese in Opposition zur Regierung, so wuchs die Bereitschaft der Abgeordneten, Beschwerden für begründet zu erachten. Auch nach 1870 hat die Abgeordnetenkammer ihre Haltung an politischen Kriterien orientiert, während die Reichsräte durchgehend an der restriktiven Handhabung festhielten. Diese konsequente Haltung der Reichsräte enthob die Regierung der Notwendigkeit, sich in der Kammer der Abgeordneten ernsthaft auf eine Diskussion über das Beschwerderecht einzulassen.
Schon zuvor aber waren die meisten Beschwerden, welche die Abgeordneten unterstützt hatten, am negativen Votum der Reichsräte gescheitert. So hat der Landtag von 1819 bis 1918 insgesamt nur elf Beschwerden an den König weitergereicht, der sie alle an den Staatsrat überwies. Zwei davon wurden überhaupt nicht beschieden, acht wurden in allen Punkten verworfen, nur eine einzige wurde teilweise als berechtigt anerkannt.

Die Beschwerden in der Abgeordnetenkammer

Der Geschäftsgang bei Beschwerden, die an die "Hohe Kammer der Abgeordneten" adressiert waren, war folgender: Die Beschwerden wurden vom Kammerpräsidenten in Empfang genommen und dem Vorsitzenden des Beschwerdeausschusses zugeleitet; dem Plenum wurde der Eingang angezeigt. Im Ausschuss wurde der allgemeine Inhalt der Beschwerde erörtert und dann ein Referent gewählt; bei schwierigeren Vorgängen wurde hin und wieder auch ein Koreferent eingesetzt.
Die Aufgabe der Referenten war es vor allem festzustellen, ob die Beschwerde die formalen Voraussetzungen erfüllte und materiell hinreichend begründet schien, so dass sie dem Plenum zur Entscheidung vorgelegt werden konnte. Die formale Zulässigkeit war an eine ganze Reihe von Bedingungen geknüpft, die nicht leicht zu erfüllen waren. Die allermeisten Beschwerden wurden deshalb als "formell unzulässig" eingestuft. Danach wurde überprüft, ob die Beschwerde materiell hinreichend begründet war. Hierbei ging es darum, ob sich die Beschwerde tatsächlich auf die Verletzung eines "konstitutionellen Rechtes" bezog. Wegen der engen Interpretation dieses Begriffs wurden fast alle Beschwerden in dieser Hinsicht als "materiell unbegründet", "ungeeignet" oder mit einer ähnlichen Bemerkung beschieden.
Trotz der zumeist negativen Beurteilung aber haben sich die Referenten mit fast allen Eingaben sehr intensiv beschäftigt; das belegen ihre ausführlichen "Vorträge." Diese intensive Beschäftigung mit nahezu jeder Beschwerde zeigt, dass die Abgeordneten ihre Aufgabe sehr ernst genommen haben. Sie trugen so der Tatsache Rechnung, dass der Beschwerdeausschuss bis 1872 das einzige parlamentarische Gremium war, in dem die Sorgen und Nöte der Bürger zur Sprache kommen konnten. Denn im Plenum durfte nur jener kleine Teil der Eingaben erörtert werden, der die hohen Hürden der formellen Zulässigkeit und der materiellen Fundierung übersprungen hatte. In der Praxis hatte daher der Beschwerdeausschuss die Last der mit der Prüfung der Beschwerden verbundenen moralischen Verantwortung zu tragen. Wie man den meisten Abgeordneten, die in diesem Ausschuss tätig waren, konzedieren muss, waren sie redlich bemüht, dieser Verantwortung gerecht zu werden.
Der Ausschuss, der mit einfacher Stimmenmehrheit darüber entschied, was mit der Beschwerde weiter zu geschehen hatte, hat sich fast stets dem Votum des Referenten angeschlossen. Damit wurde die große Mehrzahl der Beschwerden als formell unzulässig und/oder materiell unbegründet eingestuft und daher bis 1872 auch nicht dem Plenum zur Entscheidung vorgelegt.
Dies bedeutete jedoch nicht, dass diese Beschwerden ohne Erfolg bleiben mussten. Denn ein großer Teil von ihnen ging nicht "als beruhend zu den Akten", sondern es erfolgte eine Abgabe an das zuständige Staatsministerium. Die Exekutive, d.h. die Ministerien waren zwar nicht gezwungen, die ihnen auf diese Weise angezeigten Mißstände abzustellen, aber sie haben sich aus politischen Erwägungen derart vorgetragenen Wünschen und Anregungen nicht ganz verschließen können.
Tatsächlich fand eine Behebung der Missstände, die den Beschwerden zugrunde lagen, wenn überhaupt, dann auf diesem Wege des mehr oder weniger informellen "Herüberreichens" von der Kammer der Abgeordneten an die Ministerien statt. Da bis 1918 nur eine einzige Beschwerde als berechtigt anerkannt wurde, war die Wahrscheinlichkeit, auf dem verfassungsmäßigen Weg zum Erfolg zu kommen, gleich null. Dieser Tatsache haben die Abgeordneten Rechnung getragen. Wollten sie für die Beschwerdeführer etwas erreichen, so mussten sie alles vermeiden, was die Exekutive als Einmischung in ihre Kompetenzen, als Kritik oder gar Angriff empfinden konnte; denn sonst sperrte sich diese völlig. Deshalb durften die Abgeordneten auch nicht das Agieren eines ihrer Organe als verfassungsverletzend kritisieren. In einem solchen Fall erschien der Regierung jedes Entgegenkommen bereits als Schuldeingeständnis, und zu einem solchen war sie im Interesse ihrer Autorität nie bereit.
Eine Beschwerde, die vom Ausschuss und dann auch vom Plenum als berechtigt anerkannt worden war, konnte deshalb keinen Erfolg haben. Wollten die Abgeordneten einem Bürger konkrete Hilfe leisten, so durften sie dessen Beschwerde daher nicht als berechtigt anerkennen. Sie mussten sie vielmehr formal abwerten, um sie dann auf anderer Ebene mit einiger Aussicht auf Erfolg unterstützen zu können.

Die Bedeutung der Verfassungsbeschwerde

Als Mittel zur Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger hat die "Beschwerde wegen Verletzung konstitutioneller Rechte" nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt. Dafür verantwortlich war in erster Linie die von der Regierung mit großem Nachdruck durchgesetzte enge Auslegung des Begriffs "konstitutionelles Recht". Auch wird man davon ausgehen können, dass die Möglichkeit, gegen Verfassungsverletzungen Beschwerde einzulegen, nur eine geringe präventive Wirkung gehabt hat. Die Verfassungsbeschwerde war vielmehr wichtig als Ersatz für das Petitionsrecht, das den Bürgern erst im Jahre 1872 eingeräumt wurde, und in gewissem Umfang auch als Instrument der politischen Auseinandersetzung zwischen Parlament und Regierung. Nicht zuletzt aber dienten die Beschwerden der Kammer der Abgeordneten als Mittel der Information. Durch die teilweise sehr fundierten und mit großem Sachverstand abgefassten Eingaben erfuhren die Abgeordneten, was die Bürger belastete und bedrückte, sie wurden so instand gesetzt, gezielt Initiativen zur Beseitigung von Missständen zu ergreifen.
In welchem Umfang die Beschwerden tatsächlich das Handeln der Legislative und auch der Exekutive beeinflusst haben, müssen erst noch eingehendere Untersuchungen zutage fördern; ihnen bietet der Aktenbestand des Beschwerdeausschusses eine gute Basis. Das gilt auch für Fragen, die im Zusammenhang mit der Entwicklung des bayerischen Parlamentarismus von größtem Interesse sind, wie die nach der Beziehung zwischen Parlament und Bürger, nach dem Wandel im Selbstverständnis der Parlamentarier und der Bedeutung des Beschwerderechts im Rahmen des politischen Emanzipationsprozesses der Bürger. Des weiteren kann eine solche Auswertung Aufschlüsse über das Verhältnis liefern, das die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und Regionen zu ihren Repräsentanten und zum Staat hatten. Und nicht zuletzt gewähren die Beschwerdeschriften tiefe Einblicke in die Zustände der Gesellschaft, der Verwaltung, der Rechtspflege und der Wirtschaft Bayerns im 19. Jahrhundert.

Erläuterungen

Titel VII § 21 der Verfassungsurkunde von 1818

"Jeder einzelne Staatsangehörige, sowie jede Gemeinde kann Beschwerden über Verletzung der constitutionellen Rechte an die Stände-Versammlung, und zwar an jede der beiden Kammern, bringen, welche sie durch den hierüber bestehenden Ausschuß prüft, und findet dieser sie dazu geeignet, in Berathung nimmt.
Erkennt die Kammer durch Stimmenmehrheit die Beschwerde für gegründet, so theilt sie ihren diesfalls an den König zu erstattenden Antrag der anderen Kammer mit, welcher, wenn diese demselben beistimmt, in einer gemeinsamen Vorstellung dem Könige übergeben wird."

Die Verfassung vom 26.5.1818 ist abgedruckt in: Bayerische Verfassungsurkunden. Dokumentation zur bayerischen Verfassungsgeschichte, bearb. von Alfons Wenzel, Stamsried 1995, S. 23 - 41.

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Beilage X zur Verfassungsurkunde
"Edikt über die Ständeversammlung" (Gesetzblatt des Königreichs Bayern 1818, Spalte 349 - 396 ) Dritter Abschnitt,
§ 33: "Die Beschwerden, welche nach Bestimmung der Verfassungs-Urkunde Tit. VII. § 21, an die Kammern gelangen können, werden vom Präsidenten unmittelbar zum Ausschusse verwiesen, um ihren Bestand und ihre Gründlichkeit sowohl in formellen als wesentlichen Verhältnissen vorläufig zu prüfen, ehe sie den Kammern vorgelegt werden. Sie müssen mit den erforderlichen Beweisen belegt, und zugleich bescheinigt seyn, daß sie bereits bey den obersten Behörden, resp. den betreffenden Staats-Ministerien, früher vorgebracht worden, und hierauf entweder noch gar keine, oder eine den Bestimmungen der Staatsverfassung zuwiderlaufende Entscheidung erfolgt sey.

§ 34: Im Falle sie demnach als unbescheinigt, oder als gänzlich grundlos, oder als ungeeignet befunden werden, sind sie ohne weiteres als beruhend zu den Acten zu legen, oder an die betreffenden Staats-Ministerien zu geben, und in der folgenden Sitzung der Kammer hievon Nachricht zu ertheilen; im entgegengesetzten Falle ist die Beschwerde den Kammern mittelst umständlichen Vortrages vorzulegen.

§ 35: Dem Ausschusse, so wie den Kammern, kömmt es zwar nicht zu, hierüber weitere Instructionen zu veranlassen, oder von Königlichen Stellen Berichte zu verlangen; doch können sie von den einschlägigen Staats-Ministerien durch den Präsidenten die erforderlichen Aufschlüsse erhohlen(!), um jede Vorlage grundloser Beschwerden zu beseitigen; wenn sie diesselben aber als gegründet erachten, sind sie nach gemeinschaftlichem Beschluß beyder Kammern dem Könige vorzulegen, welcher nach den Bestimmungen der Verfassungsurkunde Tit. X. §. 5. verfahren wird".

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Titel X § 5 der Verfassung
"Die Stände haben das Recht, Beschwerden über die durch die Königlichen Staats-Ministerien oder andere Staatsbehörden geschehenen Verletzung der Verfassung in einem gemeinsamen Antrag an den König zu bringen, welcher denselben auf der Stelle abhelfen, oder, wenn ein Zweifel dabey obwalten sollte, sie näher nach der Natur des Gegenstandes durch den Staatsrath oder die oberste Justiz-Stelle untersuchen, und darüber entscheiden lassen wird".

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Geschäftsordnung
Geschäftsordnung der Kammer der Abgeordneten vom 28.2.1825, in:
Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten 1825, Beilagen Bd. 1, S. 187-241.
Zur Entwicklung der Geschäftsordnung: Dirk Götschmann, Parlament an der Longe.
Zur Geschäftsordnung des bayerischen Landtages im Vormärz, in: Forschungen zur bayerischen Geschichte. Festschrift für Wilhelm Volkert zum 65. Geburtstag, hg. von D. Albrecht und D. Götschmann, Frankfurt 1993, 219-236.

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Beschwerdewesen
Geschäftsordnung 1825, §§ 76 bis 78 entsprechen den Bestimmungen der X. Verfassungsbeilage § 33-35. Neu ist § 79:
" Unter die Beschwerden, welche nach dem § 77 als ungeeignet ohne weiteres zu den Akten zu legen, oder an die betreffenden Staatsministerien zu geben sind, gehören insbesondere auch diejenigen, welche ein Staatsbürger nicht in eigenem Namen und in eigener Sache, sondern im Namen und in Sache eines Dritten, ohne beygefügte legale Vollmacht dieses Letztern angebracht; oder welche ein Staatsdiener ebenfalls nicht in eigener persönlicher Sache, sondern in der Sache seiner Stelle und seines Amtes eingereicht; oder in welchen der Beschwerdeführer beleidigende Ausdrücke gewagt hat.
Andere Eingaben an die Kammer, als diejenigen, zu welchen die Staatsbürger und Gemeinden, um ihre konstitutionellen Rechte zu wahren, verfassungsmäßig befugt sind, folglich alle Eingaben, welche keine Beschwerde über Verletzung der genannten Rechte enthalten, sondern irgend einen anderen Gegenstand betreffen, sind ohne Verweisung an einen Ausschuß, von dem Präsidenten sogleich zu den Akten zu legen.
Anonyme Eingaben jeder Art, sie mögen betreffen, was sie wollen, sollen gar nicht in den Einlauf aufgenommen, sondern sogleich durch das Sekretariat vernichtet werden."

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Geschäftsordnung vom 2.9.1831
Geschäftsordnung vom 2.9.1831, abgedruckt bei Georg Döllinger (Hg.),
Sammlung der im Gebiete der inneren Staatsverwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen, Bd. 7, München 1836, 53-56.

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Bestimmungen zur Behandlung von Beschwerden
Geschäftsordnung 1831 Titel XII: "Behandlung der Eingaben", Ziffer 1 "der Staatsbürger und Corporationen".
Während die Artikel 51 bis 53 wörtlich den Paragraphen 76 bis 78 der Ordnung von 1825 entsprechen, wurde der erste Absatz des 1825 neu aufgenommene Paragraph 79 gestrichen; er umfasste jetzt nur noch folgende beide Sätze:
Art. 54. "Andere Eingaben an die Kammer, als diejenigen, zu welchen die Staatsbürger und Gemeinden, um ihre constitutionellen Rechte zu wahren, verfassungsmäßig befugt sind, folglich alle Eingaben, welche keine Beschwerde über Verletzung der genannten Rechte enthalten, sondern irgend einen anderen Gegenstand betreffen, sind ohne Verweisung an einen Ausschuß von dem Präsidenten sogleich zu den Acten zu legen.
Anonime (!) Eingaben jeder Art, sie mögen betreffen was sie wollen, sollen gar nicht in den Einlauf aufgenommen, sondern sogleich durch das Sekretariat vernichtet werden".

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Geschäftsordnungsautonomie
Die Befugnis des Landtages zur selbständigen Regelung der eigenen Angelegenheiten wurden deutlich erweitert; vgl. Geschäftsganggesetz vom 7. August 1850; Gesetzblatt 1850, Spalte 297 - 318.

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Beschwerdewesen, Geschäftsganggesetz
Geschäftsganggesetz vom 7. August 1850, Artikel 22.

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Geschäftsordnung vom 25.2.1851
Geschäftsordnung der Kammer der Abgeordneten vom 25.2.1851,
abgedruckt bei Georg Döllinger (Hg.),
Fortgesetzte Sammlung der im Gebiete der inneren Staatsverwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen, Bd. 21, München 1853, S.338 - 359.

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ständiger Ausschuss
Geschäftsordnung von 1851, Art. 31.
Bis 1848 war der Beschwerdeausschuss stets der 5. Ausschuss gewesen; durch Wegfall des bisherigen 4. Ausschusses rückte er nun an dessen Position.
Zum Ausschusswesen allgemein s. Gabriele Wiesend, Das Ausschußwesen des Bayerischen Landtags (Beiträge zum Parlamentarismus, hg. von Harry Andreas Kremer, Bd. 3) München 1989.

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Geschäftsordnung von 1851, "Besondere Bestimmungen"
Artikel 52: "Beschwerden, welche nach Bestimmung der Verfassungsurkunde Tit. VII § 21 an die Kammer gelangen, werden vom IV. Ausschusse geprüft.
Sie müssen mit den erforderlichen Beweisen belegt und zugleich bescheinigt sein, daß sie bereits bei der obersten Behörde, resp. den einschlägigen Staatsministerien, früher vorgebracht worden, und daß hierauf noch gar keine, oder eine den Bestimmungen der Staatsverfassung zuwiderlaufende Entschließung erfolgt sei.
Findet der Ausschuß oder wenigsten drei Mitglieder desselben die Beschwerde für zulässig und begründet, so erstattet der Referent in der Kammer hierüber Vortrag. Ausserdem zeigt der Referent des Ausschusses der Kammer an, daß der Ausschuß die Beschwerde für unzulässig oder unbegründet erachtet habe.
Dem Ermessen des Ausschusses bleibt es überlassen, Beschwerden, über welche kein Vortrag an die Kammer erstattet wird, dem betreffenden Ministerium zu überweisen."

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Geschäftsganggesetz von 1872
Das Geschäftsganggesetz von 1872 reduzierte Titel VII, § 21 Abs. 1 der Verfassung von 1818 auf die folgende Bestimmung :
"Jeder einzelne Staatsangehörige sowie jede Gemeinde kann Beschwerden über Verletzung der constitutionellen Rechte an den Landtag, und zwar an jede der beiden Kammern, bringen, welche sie durch den hierüber bestehenden Ausschuß prüfen läßt und nach Maßgabe der Geschäftsordnung in Berathung nimmt";
Gesetz, den Geschäftsgang des Landtags betreffend, vom 19.1.1872; Gesetzblatt 1872, Spalte 173-192, Abschnitt II, Ziffer 2.

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Geschäftsordnung von 1872
Geschäftsordnung vom 1. 3. 1872, abgedruckt in:
Bayerns Gesetze und Gesetzbücher, 7. Ergänzungsband, Bamberg 1879, S. 708 ff.

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Ausschuss
Geschäftsordnung von 1872, Art. 26. (Beschwerdeausschuss):
"Über alle nach § 21 Titel VII der Verfassungsurkunde und Abschnitt II Ziffer 2 des Gesetzes vom 19. Januar 1872 an die Kammer gelangenden Beschwerden hat der betreffende Ausschuß Bericht an die Kammer zu erstatten".
Es war seit 1851 der vierte der weiterhin bestehenden fünf ständigen Ausschüsse. Nur bei den Landtagen 1870 und 1871/72 figurierte er nochmals als 5. Ausschuss, da einem damals eingerichteten Ausschuss für Handel und Verkehr die 4. Position eingeräumt wurde.

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Verwaltungsrechtsbehelf
Zu dieser Funktion s. Dieter Köhler, Die Beschwerde wegen Verletzung konstitutioneller Rechte in der bayerischen Verfassung von 1818, Diss. Jur. München 1965.

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Prüfung der Zulässigkeit von Beschwerden
Nach den Bestimmungen der X. Verfassungsbeilage oblag diese allein der Kammer, beziehungsweise deren Beschwerdeausschuss.
Die Präsidenten hatten nur die Aufgabe, die eingehenden Beschwerden ohne Prüfung ihres Inhaltes an den Ausschuss zu leiten (Beilage X zur Verfassungsurkunde von 1818, II. Titel, § 1, § 33).

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Vorkontrolle
Die Ausweitung der Kompetenzen des Präsidenten erfolgte auf Initiative der Regierung, welche so die Kammer der Abgeordneten stärker lenken und kontrollieren konnte. Festgeschrieben wurde dies mittels der Geschäftsordnung von 1825, die dem Präsidenten auch im Beschwerdewesen nunmehr eine Schlüsselstellung einräumte.
Nach den neuen Bestimmungen hatte nicht mehr der Ausschuss, sondern der Präsident zu entscheiden, ob sich die einkommenden Beschwerden tatsächlich auf die Verletzung konstitutioneller Rechte bezogen und damit zulässig waren oder nicht. Alle Eingaben, "welche keine Beschwerde über Verletzung der genannten Rechte enthalten, sondern irgend einen anderen Gegenstand betreffen" konnte er jetzt, ohne sie auch nur dem Ausschuss zur Kenntnis zu bringen, zu den Akten legen; Geschäftsordnung der Kammer der Abgeordneten 1825, § 75.

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Kammerplenum
Bis zum Erlass der Geschäftsordnung von 1851 musste das Plenum über die Beschwerden nur informiert werden. Der Ausschuss dagegen besaß das Recht, Beschwerden, die er als "unbescheinigt, oder als gänzlich grundlos, oder als ungeeignet" einstufte, selbstverantwortlich, also ohne Mitwirkung des Plenums, als beruhend zu den Akten zu legen oder an die zuständigen Ministerien weiterzureichen. Die Kammer war über diese Maßnahme lediglich zu informieren (Beilage X zur Verfassungsurkunde von 1818, II. Titel, § 34; Geschäftsordnung der Kammer der Abgeordneten 1851, Art 52).

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Plenardebatte
Plenardebatten über Beschwerden fanden nur statt, wenn die Ausschussmehrheit diese als berechtigt anerkannt hatte.
Ab 1851 konnte dann eine aus mindestens drei Mitgliedern bestehende Minderheit des Beschwerdeausschusses wenigstens verlangen, dass eine solche Beschwerde dem Plenum ausführlicher vorgetragen wurde (Geschäftsordnung der Kammer der Abgeordneten 1851, § 52). Das Votum der Ausschussmehrheit blieb aber bindend und eine Plenardebatte fand auch jetzt nicht statt.

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Plenarbeschluss
Diesem lag die Berichterstattung des Beschwerdeausschusses zugrunde, die allerdings oft so kurz gefasst war, dass sich die Abgeordneten kaum ein fundiertes eigenes Urteil bilden konnten.
Tatsächlich kam es nur in Ausnahmefällen zu Debatten über derartige Beschwerden, und aus den Jahren nach 1872 ist kein Fall bekannt, in dem das Plenum anders entschied als ihm der Ausschuss vorschlug.

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Kammer der Reichsräte
Der Landtag bestand bis 1918 aus zwei Kammern:
Kammer der Reichsräte (Erste Kammer) und Kammer der Abgeordneten (Zweite Kammer). Beide waren völlig gleichberechtigt, so dass der Landtag nur dann handlungsfähig war, wenn sich beide Kammern einig waren (Verfassung 1818, Titel VII, §§ 19 und 20.) Deshalb konnte eine Beschwerde auch nur dann an den König gebracht werden, wenn sie von beiden Kammern als berechtigt anerkannt wurde (Verfassung 1818, Titel VII, § 21; Geschäftsganggesetz 1872, Art. 39.).

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Erfolgsquote der Beschwerden
1876 zog der Innenminister in der Kammer der Reichsräte Bilanz:
Im Zeitraum von 1818 bis 1876 hatte die Kammer der Reichsräte nur 15 Beschwerden ihr Plazet gegeben (Verhandlungen der Kammer der Reichsräte 1876, 13. Sitzung vom 26.7.1876, S. 697). Eine Berechnung, der alle Beschwerden von 1819 bis 1918 zugrunde liegen (Dieter Köhler, Die Beschwerde wegen Verletzung konstitutioneller Rechte in der bayerischen Verfassung von 1818, Diss. Jur. München 1965, S. 124) kommt zu dem Resultat, dass die Kammer der Reichsräte von den insgesamt 22 Beschwerden, die ihr die Kammer der Abgeordneten vorlegte, 8 ablehnte; weitere 3 kamen wegen Schluss des Landtages nicht mehr zur Beratung, 1 blieb unerledigt, weil man nähere Aufschlüsse einholen wollte, 4 erledigten sich, weil die Regierung während der Beratungen die Verordnung zurücknahm, gegen die sie sich richteten. Somit hätten die Reichsräte lediglich 6 Beschwerden unterstützt. Ihrerseits hat die Kammer der Reichsräte nach dieser Berechnung 10 der bei ihr eingereichten Beschwerden anerkannt und an die Kammer der Abgeordneten weitergegeben, die 5 davon als berechtigt anerkannt hat.

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constitutionelles Recht
Die Regierung hat mit Unterstützung der Staatsrechtslehre darauf beharrt, dass Beschwerden grundsätzlich nur im Falle der Verletzung "constitutioneller Rechte" erhoben werden dürften. Diese aber waren weder in der Verfassung noch sonst näher eingegrenzt. Eine eindeutige Abgrenzung zwischen verfassungsmäßig garantierten und anderen Rechten konnte es auch kaum geben. Bei einer entsprechenden Interpretation konnte man nahezu jedes dem Bürger eingeräumte Recht zumindest auf Grundsätze der Verfassung zurückführen. Deren Titel IV § 8 gewährte nämlich "jedem Einwohner Sicherheit seiner Person, seines Eigenthums und seiner Rechte", und in der Einleitung der Verfassung wurde unter anderem auch der Grundsatz der "Gleichheit der Belegung und Pflichtigkeit ihrer (= der Bürger; d. Verf.) Leistung" ausgesprochen. Damit hätte Beschwerden in nahezu unbeschränkte Ausmaße begründen können.

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Kontrollorgan der Exekutive
Eine solche Rolle des Parlaments aber wäre den Intentionen des Verfassungsgebers völlig entgegen gewesen (vgl. Max Seydel, Entstehungsgeschichte der Verfassungsbestimmungen über das Petitions- und Beschwerderecht, in: M. Seydel, Bayerisches Staatsrecht, 2. Aufl. 1896, Bd. 2, § 91).
Tatsächlich war eine andere als enge Auslegung des Begriffes "constitutionelles Recht" wohl nicht mit den Grundsätzen der Verfassung von 1818 zu vereinbaren. Die Schlussfolgerung, zu der Seydel nach seiner gründlichen Erörterung des Für und Wider für eine engere oder weiter gefasste Definition des Begriffs "konstitutionell" kam, ist im Hinblick auf diese Verfassung zweifellos die einzig zutreffende: " Die Verfassungsurkunde zeigt sich allenthalben auf das Sorgsamste bedacht, die königlichen Regierungsrechte, insbesondere den Gang der Verwaltung, gegen Eingriffe der Stände zu schützen. (...) Soll es nun glaublich sein, daß der Geber der Verfassung diese genaue Abgrenzung der Zuständigkeit des Landtages nur zu dem Ende vorgenommen hat, um sein eigenes Werk durch die Bestimmung des Titels VII § 21 zu zerstören, der nach der "weiteren" Auslegung den Landtag zu einer Art Oberaufsichtsstelle über die gesamte Staatsverwaltung machen würde? Das ist geradezu undenkbar. Nur zu dem einen Zweck des Schutzes des eigentlichen Verfassungsrechtes kann ein Beschwerderecht gegeben sein, das, an sich ein ausnahmsweises, wenn es zur Regel würde, ein größeres Übel wäre, als diejenigen Mißstände, zu deren Beseitigung es dienen soll. Denn nicht nur die Sorge um die Wahrung der königlichen Machtfülle, auch die Rücksicht auf die staatliche Ordnung mußte den Geber der Verfassung abhalten, ein schrankenloses Beschwerderecht zu verleihen" (Seydel, Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. 2, S. 368).

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enge Definition
Enge Definition hieß konkret, dass als "constitutionelle Rechte" nur solche galten, die in der Verfassung selbst explizit enthalten waren. Damit schied dann das Handeln der Exekutive in dem Bereich, der nur durch allgemeine Gesetze geregelt war - und das war nicht nur der bei weitem umfangreichere, sondern auch derjenige, der für das tägliche Leben die wesentlich größere Bedeutung hatte - als Gegenstand von Beschwerden und damit auch als Objekt einer Überprüfung durch das Parlament von vornherein aus.
Mehr noch: da auch die in der Verfassung als Grundsätze formulierten Bestimmungen nach dieser Auffassung keine einklagbaren Rechte darstellten, schrumpfte das Beschwerderecht letztlich auf die Bereiche zusammen, die mittels der sogenannten Edikte - Gesetze, die als Beilagen der Verfassung angefügt wurden und damit Verfassungsrang hatten - gesetzlich geregelt waren. Es gab insgesamt 10 solcher Edikte, die folgende Bereiche regelten: die Staatsangehörigkeit, das Verhältnis von Staat und Kirche, die Verhältnisse der Presse und des Buchhandels, die Rechte des Adels, besonders die des vormals reichsunmittelbaren und des grund- und gerichtsherrschaftlichen Adels, das Recht der Siegelmäßigkeit (das Adeligen und höheren Beamten eingeräumt war), das Beamtenrecht und schließlich alles, was den Landtag selbst betraf.

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Widerstand von seiten des Landtages
Wiederholt wurde, und zwar nicht nur in der Kammer der Abgeordneten, in bestimmten Fällen eine weitere Auslegung des Beschwerderechts praktiziert. So beispielsweise auf dem Landtag von 1834, als sich sowohl unter den Abgeordneten wie unter den Reichsräten Fürsprecher für eine weitergefasste Auslegung fanden. Sie argumentierten damit, dass Titel IV § 8 der Verfassung jedem Bayer bestimmte Rechte garantiere, gegen deren Verletzung er folglich Beschwerde einlegen könne (vgl. Seydel, Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. 2, S. 387).
In beiden Kammern wurde dem jedoch von konservativen Mitgliedern heftig widersprochen: "Wohin sollte es kommen, wozu wären die Gerichte da, wenn jede Rechtsverletzung ohne Unterschied eine Beschwerde wegen verletzter Verfassung vor den Ständen begründen könnte?" entgegnete ein Reichsrat solchen Forderungen, und in der Kammer der Abgeordneten brachte ein Mitglied des Beschwerdeausschusses die Sache auf den Punkt. Würde das Beschwerderecht in dieser Weise interpretiert, dann "würden die ständischen Kammern mit ihren fünf Ausschüssen zu allgemeinen, fast ausschließlichen Tribunalen über Rechtsverletzungen erhoben, hiedurch aber die eigentlichen und uneigentlichen (Administrativ-) Justizbehörden und Stellen fast ganz entbehrlich gemacht werden" ( zitiert nach Seydel, eda.).

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"ziviler Widerstand" der Bürger
Im Februar 1834 verabschiedete der Staatsrat einen Erlass, der das Sammeln von Unterschriften für "Adressen" und den Zusammenschluss von Bürgern zum gemeinsamen Vorbringen von Petitionen ausdrücklich untersagte. Jeder Eingriff von "Nichtmitgliedern der Ständeversammlung in die Vorrechte dieser" sei verfassungswidrig. Zu diesen Vorrechten gehöre aber das Vorbringen von Wünschen und Anträgen, das demnach Bürgern nicht zustünde.
Verfassungswidrig sei ebenso jede "Collektiv-Beschwerde" mehrerer Bürger und Gemeinden, da die Verfassung das Beschwerderecht nur einzelnen Bürgern und Gemeinden (und nur diesen!) zugestehe. Zur Beschwerdeführung bei den Gemeinden seien zudem nur deren legale Vertreter befugt, aber nicht Gemeindegremien oder Gruppen von Bürgern. Die Kreisregierungen seien bei Verstößen gegen diese Bestimmungen schon beim Versuch zum polizeilichen Einschreiten verpflichtet, bei schwerwiegenderen Fällen habe eine strafrechtliche Verfolgung stattzufinden (Auszug aus dem Staatsratsprotokoll vom 8.2.1834).

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Abweichungen
Diese Fälle führt Seydel in seinem Anhang "die Behandlung der Verfassungsbeschwerden in den Kammern", Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. 2, S. 386- 398, explizit auf.

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Vorrangstellung der Regierung
Diese begründete beispielhaft Staatsrats Bomhard in einem Referat von 1875/6, das Seydel als das "vielleicht Beste" einschätzte, was im Landtag jemals zum Umfang des Beschwerderechtes vorgetragen wurde. Darin führte er u. a. aus:
"Den Grundsatz anerkennen, daß bei den Kammern des Landtages Beschwerden über die Verletzung eines jeden Rechts, auch eines nicht grundgesetzlichen, angebracht und daß eine jede solche Beschwerde von den Kammern in den Kreis ihrer verfassungsmäßigen Wirksamkeit gezogen werden müßte, hieße die Kammern zu einer permanenten Dauer ihrer Sitzungen nöthigen und dieselben als Revisionsinstanz mit der obersten Aufsicht über alle Maßnahmen staatlicher Behörden beauftragen, denn es läßt sich kaum eine Vollzugsentschließung denken, die nicht in einer oder anderen Beziehung die Rechtssphäre des einzelnen Staatsbürgers berührt. Der ganze bis daher festgehaltene staatliche Organismus würde auf solche Weise verschoben werden." ( Seydel, Staatsrecht, 2. Aufl. Bd. 2, S. 396).

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Opposition
Stark war diese Opposition z. B. 1847, als sich Abgeordnete und Regierungsvertreter eine erste längere Debatte über den Umfang des Beschwerderechts lieferten. Dagegen hatte die Schwäche der Opposition nach der Revolution von 1848 zur Folge, dass sich der Beschwerdeausschuss auf dem Landtag von 1849/50 völlig die restriktive Auslegung der Staatsregierung zu eigen machte.
Die Fälle, in denen er auch solche Beschwerden für begründet erachtete, die keine Verfassungsverstöße im engeren Sinn betrafen, nahmen aber ab Mitte der 1850er Jahre wieder zu. Die dahinter stehenden Intentionen der Abgeordneten machte der Karl Brater, einer der führenden Liberalen deutlich, wenn er forderte, dass die Kammer das Beschwerderecht solange im weitesten Umfange in Anspruch nehme sollte, wie die Exekutive den Ansprüchen der Bürger nicht genüge (Seydel, Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. 2, S. 392).

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politische Kriterien
Die Wirksamkeit politischer Kriterien belegen die Abstimmungsergebnisse bei bestimmten Beschwerdesachen. Sie zeigen, dass die Abgeordnetenkammer immer wieder ihren Standpunkt änderte, wobei der Gegenstand der Beschwerde entscheidend war (Seydel, Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. 2, S. 392-397).

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restriktive Handhabung
Auf einer engen Auslegung beharrten die Reichsräte durchgehend, seitdem Staatsrat Bomhard auf dem Landtag von 1875/76 in ihrer Kammer mit großem Nachruck und sehr überzeugend den Standpunkt der Regierung in Bezug auf den Umfang des Beschwerderechts vertreten hatte (s. Seydel, Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. 2, S. 395 ff.).
Die Erste Kammer hat 1859 letztmals einer von der Kammer der Abgeordneten vorgelegten Beschwerde ihre Zustimmung erteilt (Beschwerde Zander, Eingriff in die Pressefreiheit ), seither tat sie das nie mehr.

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Staatsrat
Dieses Gremium wurde bei einer Verfassungsbeschwerde nicht in seiner Funktion als Beratungsorgan tätig, sondern hatte die Entscheidung zu treffen; zur Rolle und Tätigkeit des Staatsrats in Beschwerdesachen s. Dieter Köhler, Die Beschwerde wegen Verletzung konstitutioneller Rechte in der bayerischen Verfassung von 1818, Diss. Jur. München 1965, S. 126 - 139.

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Geschäftsgang bei Beschwerden
Grundlage dafür waren: X. Beilage zur Verfassung von 1818, III. Abschnitt: Besondere Ausschüsse der Kammer; Geschäftsordnung für die Kammer der Abgeordneten 1825, Vierter Abschnitt: Von den besonderen Ausschüssen der Kammer; Geschäftsordnung für die Kammer der Abgeordneten 1831, Dritter Abschnitt: Von den besonderen Ausschüssen der Kammer; Geschäftsordnung für die Kammer der Abgeordneten 1851, Dritter Abschnitt: Geschäftsbehandlung, Teil A: In den Ausschüssen; Geschäftsordnung der Kammer der Abgeordneten 1872, Dritter Abschnitt: Geschäftsbehandlung in der Kammer und den Ausschüssen; Geschäftsordnung für die Kammer der Abgeordneten 1904, Dritter Abschnitt: Geschäftsbehandlung in der Kammer und den Ausschüssen.

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Vorsitzender des Beschwerdeausschusses
Vorsitzender des Beschwerdeausschusses war zunächst stets das älteste Mitglied des Ausschusses (X. Beilage zur Verfassung von 1818, Titel II, § 28), seit 1851 wurde er von den Ausschussmitgliedern gewählt (X. Beilage zur Verfassung von 1818, Titel II, § 28).

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Referent
Ab 1872 war es dem Ausschussvorsitzenden überlassen, den Referenten und nun auch regelmäßig einen Koreferenten zu ernennen; s. Geschäftsordnung Kammer der Abgeordneten 1872, Art. 23.

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Bedingungen
1. Bayerische Staatsangehörigkeit; nur wer diese besaß konnte sich auf die verfassungsmäßigen Rechte eines Bayern berufen.
2. Eigenschaft des Beschwerdeführers. Nur natürliche Personen oder Gemeinden waren beschwerdeberechtigt, wobei sich zunächst aber auch mehrere vereinen konnten. Die Beschwerdeführer konnten sich auch von einem bevollmächtigten Anwalt vertreten lassen.
3. Unmittelbare Betroffenheit. Derjenige oder diejenigen, die Beschwerde einlegten, mussten selbst unmittelbar von einer Verfassungsverletzung betroffen sein. Insbesondere konnte niemand von Amts wegen Beschwerde einlegen.
4. Nachweis, dass eine Abhilfe auf andere Weise nicht möglich sei. Hierzu musste nachgewiesen werden,
a) dass der Verwaltungsbeschwerdeweg erschöpft war oder
b) dass eine Abhilfe auf gerichtlichem Wege nicht möglich ist; denn in allen Fällen, deren Gegenstände in die Zuständigkeit der Gerichte fielen und bei denen der Rechtsweg offen stand, war eine Beschwerde nicht zulässig.
5. Die Beschwerde durfte sich nicht gegen ein Gerichtsurteil richten, da die Unabhängigkeit der Justiz auch durch den Landtag nicht eingeschränkt werden durfte. Probleme gab es hierbei vor allem in bei den "administrativ-kontentiösen" Fällen, das waren solche, bei denen es sich um Entscheidungen der Administrativjustiz handelte.
6. Die Beschwerde musste ordnungsgemäß belegt sein. Das geschah i. d. R. durch Beifügen beglaubigter Abschriften aller wesentlichen Eingaben und Bescheide.
7. Der Beschwerdeführer musste klar zu erkennen geben, dass er sich in einem konstitutionellen Recht verletzt fühlte.

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"formell unzulässig"
Viele Beschwerden wurden als "unzureichend belegt" qualifiziert, weil ihnen die Abschriften wichtiger Dokumente oder aber diesen Abschriften die amtliche Beglaubigung ermangelte.
Noch öfter erkannten die Referenten auf formelle Unzulässigkeit, weil die Beschwerdeführer entweder den Verwaltungsbeschwerdeweg oder den Rechtsweg noch nicht zu Ende gegangen waren; häufig waren auch die Fälle, in denen die formale Zulässigkeit nicht gegeben war, weil sich die Beschwerde gegen ein Gerichtsurteil richtete. In all diesen Fällen lautet das Votum des Referenten "formell unzulässig" , "unzulässig" oder ähnlich.

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Vorträge
Bei diesen Vorträgen handelt es sich um die Manuskripte, die dem Referenten bei der Berichterstattung im Ausschuss als Grundlage diente. Die Gründlichkeit, mit der sich die Referenten mit der Materie auseinandersetzten, und die Ausführlichkeit, in der sie dem Ausschuss Bericht erstatteten, und zwar unabhängig von dem Votum, das sie am Schluss ihres Vortrages abgaben, mag zunächst überraschen.
Oft hat sich der Referent zudem vor Ausarbeitung seines Vortrages von dem Ministerium, in dessen Ressort die Beschwerde fiel, weitere Informationen über den Vorgang eingeholt. Selbständig durfte er sich mit den Ministerien allerdings nicht in Verbindung setzten, da die Regierung streng darüber wachte, dass sich das Parlament keine Kontrollbefugnisse über die Exekutive anmaßte. Sie hat daher alles unterbunden, was auch nur entfernt den Anschein einer derartigen Kontrolle erwecken konnte. Wollte der Referent Informationen eines Ministeriums einholen, so musste er sich an den Ausschussvorsitzenden wenden, der ein entsprechendes Gesuch an den Präsidenten der Kammer der Abgeordneten richtete, das dieser dann seinerseits an das Ministerium weiterreichte. Den gleichen Weg nahm dann die Auskunft, die das Ministerium dem Referenten zukommen ließ. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte setzt sich die Praxis durch, dass Vertreter der betreffenden Ministerien an den Ausschusssitzungen teilnahmen und die gewünschten Auskünfte mündlich erteilten. Akteneinsicht erhielten die Parlamentarier jedoch nie.

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intensive Beschäftigung
Auch Beschwerden, die sehr unbeholfen und verwirrend formuliert waren und selbst solche von offensichtlich verwirrten und offiziell als geisteskrank eingestuften Menschen wurden i. d. R. so wichtig genommen, dass man sich um die Aufklärung der darin geschilderten Missstände bemühte.
Routinemäßig abgelegt wurden nur wiederholte Eingaben notorischer Querulanten.

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Verantwortung
So haben sie sich kaum jemals darauf beschränkt, eine Beschwerde ausschließlich nach den formalen und juristischen Kriterien zu beurteilen, sondern sie haben fast immer auch dem konkreten Vorgang und der Situation des Betroffenen gerecht zu werden versucht.
Bester Beweis für ihr Bemühen, trotz der engen Schranken, welche die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, beziehungsweise deren Interpretation durch die Regierung zogen, den Bürgern im Einzelfall zu helfen, sind die zahlreichen Fälle, in denen die Referenten den Ursachen für eine Beschwerde abgeholfen sehen wollten, und zwar auch dann, wenn sie diese als formal unzulässig und materiell unbegründet einstufen mussten.

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formell unzulässig und/oder materiell unbegründet
Erst im Laufe der Zeit bildete sich eine festere Terminologie der Voten heraus, die dann in der Geschäftsordnung von 1851 ihren Niederschlag fand. Nach dieser sollten solche Beschwerden als "ungeeignet zur Vorlage" eingestuft werden, die "unbescheinigt", "gänzlich grundlos" oder "ungeeignet" seien. In der Folge setzten sich dann zwei Abweisungskriterien durch: "Unzulässigkeit" und "Unbegründetheit".

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Abgabe an das zuständige Staatsministerium
Auf den ersten Landtagen wurden Beschwerden auch noch häufiger an einen der anderen Ausschüsse, vor allem an den Gesetzgebungsausschuss und den Innenausschuss weitergeleitet, doch kam man von dieser Praxis, welche die Geschäftsordnung auch nicht vorsah, auf den späteren Landtagen wieder ab.
Beibehalten aber wurde die ebenfalls schon 1819 eingeführte Übung, viele der Beschwerden, die als ungeeignet zur Vorlage im Plenum befunden wurden, nach der abschließenden Beratung im Ausschuss dem Ministerium zu übergeben, in dessen Ressort die Beschwerdesache fiel. In beigefügten Begleitschreiben wurden die Ministerien um "geeignete Berücksichtigung" oder um "Veranlassung" oder Ähnliches ersucht.
Wie die Ministerien mit den ihnen überwiesenen Fällen im einzelnen verfahren sind, lässt sich den Akten nicht entnehmen, denn die Exekutive hat das Parlament über ihre Maßnahmen nicht offiziell informiert. Aber immer dann, wenn der Regierung an einem gutem Verhältnis zum Landtag besonders gelegen war - und das war vor allem dann der Fall, wenn das Budget oder wichtige Gesetze zu verabschieden waren - , dürfte sie der Kammer entgegengekommen sein und dafür gesorgt haben, dass die Ministerien den aufgezeigten Missständen nachgingen. Je schlechter das Verhältnis von Kammer und Regierung war, und je stärker sich letztere fühlte, um so geringer wird jedoch ihre Bereitschaft gewesen sein, dem Ansuchen der Abgeordneten zu folgen.
In welchem Ausmaße die Ministerien tatsächlich tätig wurden und inwieweit diese Tätigkeit von dem jeweiligen innenpolitischen Klima abhängig war müsste jedoch erst noch genauer untersucht werden.

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Aussicht auf Erfolg
Die geringe Zahl von 40 Beschwerden, die der Beschwerdeausschuss der Kammer der Abgeordneten, und von 31, die dann die Kammer selbst in beinahe einem Jahrhundert als berechtigt anerkannte, ist vor diesem Hintergrund keineswegs als Indiz für ein mangelndes Engagement der Abgeordneten für die Bürger zu interpretieren.
Durch das Aufgreifen einer größeren Zahl von Beschwerden hätten sich die Abgeordneten zwar in der Öffentlichkeit mühelos als eifrige Vertreter der Bürgerinteressen profilieren und auch die Regierung des öfteren in Verlegenheit bringen können. Zugleich aber hätten sie auf diese Weise den betroffenen Bürgern in der Sache selbst mit Sicherheit viel weniger helfen können, als es ihnen auf dem "kleinen Dienstweg" bei tunlichster Vermeidung jeder Konfrontation möglich war. Die Erfolge, die man so erzielte, waren sicherlich nicht spektakulär und eigneten sich auch nicht als Waffen in den politische Auseinandersetzungen. Auch wenn dies wahrscheinlich von manchen Abgeordneten als sehr unbefriedigend empfunden wurde, so siegte in der täglichen Praxis doch das pragmatische, am Interesse der betroffen Bürger orientierte Handeln. In der Kammer der Abgeordneten wurden deshalb fast ausschließlich solche Beschwerden aufgegriffen, die von prinzipieller und politischer Bedeutung waren, wie beispielsweise Fragen des Wahlrechts, der Pressefreiheit, des Steuerrechts etc.

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präventive Wirkung
Eine präventive Wirkung konnte das Recht der Verfassungsbeschwerde bei der von der herrschenden Staatsrechtslehre abgedeckten engen Auslegung nicht entfalten; diese Staatsrechtslehre entsprach aber nur den realen Machtverhältnissen, wie auch die praktische Handhabung dieses Rechtes belegt.

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